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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Primitivität, er hatte ein paar energische Gesten, darunter höchst sonderbar das Aufheben der Zeigefinger zu beiden Seiten des Kopfes: Ich könnte euch erzählen! (noch mehr Beispiele von menschlichen Leiden z.B.). Auf dem Friedhof war ein neues Kreuz geweiht worden, u. daran lehnte er seinen Predigttext: Stat Crux, dum volvitur orbis. 2 Die ersten Sätze waren ein offenkundigstes Triumphgeschrei über den Sturz der Nazis. Aber dann trat der Diplomat in Aktion, den der alte Flamensbeck nachher rühmte: das Kreuz triumphiert über die Gegner aller Schattierungen – es brauchten nicht gerade die Nazis, es konnten auch die Bolschewisten oder andere Gottlose sein, Kaiphas oder der laue Pontius Pilatus oder die würfelnden Legionäre. Und dann, im längsten Teil der Predigt, wurde Crux zum Leiden u. zur Ungerechtigkeit der Welt, für die es im Jenseits Ausgleich gibt. Ich dachte an das chinesische Totengeld. Aber gegen das Totengeld der Kirche komt kein Diesseitsversprechen auf, deshalb wird sie immer über Faschismus u. Bolschewismus triumphieren. (Molls Predigt vom Sonntag zuvor, einen Tag nach der Besetzung, von der mir jemand aus dem Dorf, Frau * Dr. Steiner u. schließlich er selber erzählten, habe ich trotz allem nicht verstanden. Er hat einen Davidpsalm ausgelegt – David, Absalom, Marsch auf Jerusalem?? – er hat u.a. gesagt, die Unterbernbacher dürften keinen besonderen Stolz deswegen hegen, weil gerade ihr Dorf verschont geblieben sei .. Ich müßte den Psalm lesen.) –
     

 
    Dienstag 8. Mai 45 Amtshaus .
     
    Die Predigtnotiz machte ich erst gestern fertig. Am Sonntag hatte ich mir durch das Holzhacken mit * Flammensbecks Beil derart die Hand angegriffen, daß ich die Feder nicht führen konnte. – Daß ich seitdem kaum zum Schreiben kam, liegt in der Hauptsache am Wetter. Sonntag schlug es plötzlich um, erst war aus dem kalten Regen- u. Schneesturm warmer Föhn geworden, dann wurde es heiß, u. die Wege trockneten. Dabei drohte u. droht noch immer Gewitter, die Luft ist naß, die Sonne sticht, der Himmel ist nur teilweise u. nur stundenweise blau, irgendwo zieht immer ein Wetter herauf oder herum, gestern Abend war schweres Gewölk u. starkes Wetterleuchten u. fernes Grollen am Südhimmel (bei schönen Goldfarben des Sonnenuntergangs), aber bis jetzt haben Trockenheit u. Wärme vorgehalten. So sind wir viel im Walde gewesen, u. ich habe vorgelesen. – Was noch vom Schreiben abhält, ist eine gewisse Gleichartigkeit unseres Lebens. Nun sind wir schon seit Freitag Abend im Amtshaus, kein * Bürgermeister, kein USA-Soldier hat sich bisher um uns gekümert – wir sind ein bisschen eingewöhnt: der Schöpfbrunnen ist mir vertraut, das brutale Zerhacken oder Zerbrechen oder Zertreten von schönen Rahmen, Bett- u. Gerderobeteilen, das Suchen nach alten Hausschuhen, Mappen etc., alles sub specie Heizen, auf dem Chaosboden desgleichen. Es ist unglaublich, wieviel Holz der Ofen frißt, nur um uns Morgens u. Nachmittags Kaffee zu kochen. Mittag u. Abendbrod geben uns * Fl. s, nach dem Abendbrod gehen wir ins Gasthaus u. bekomen einen Becher Kaffee: das ist jetzt fester Tagesrahmen. Irgendwann vor oder nach dem Abendessen sind wir eine Weile im Schulhaus, wo uns die * * Schwestern rührend mit dem u. jenem – Geschirr, Rauchzeug, Ichthyolsalbe, Gummi-Überschuhe ... – aushelfen, ohne irgendeine Gegenleistung anzunehmen. Als Tagesbeschluß dann ein paar Schritte die Straße nach Radersdorf oder rechts seitlich den Feldweg nach Inchenhofen entlang. Das Amtshaus scheint mit seiner Breitseite den Dorfeingang zu decken, auf der Mitte der Dachkante sitzt hübsch u. stattlich ein kleines Ziertürmchen, eigentlich nur ein Schornstein mit überdachender Zwiebel. Wenn wir dann bald nach neun zu Bett gehen, ist es recht dunkel. – Das Licht fehlt nun schon den elften Tag (es ist wohl am 28. 4. doch nicht einem Gewitter, sondern dem Kampf erlegen, die Schwestern Steiner-Haberl erzählen von ihrer Radfahrt nach Neuburg, es hingen überall zerrissene Drähte) –, u. mit dem Licht fehlen das Radio u. alle Nachrichten.
    Daran knüpfen sich die schwersten unserer gegenwärtigen Beunruhigungen u. guai. Vo allem die Frage: wie u. wann werden wir von hier fort u. nach Dresden können? Wie komen wir überhaupt nur nach Aichach, u. was finden wir dort vor? Um wirkliche Hilfe zu erfahren, müßte ich mich als Jude decouvrieren. Das möchte ich aber erst dann tun, wenn ich aus der hiesigen Umgebung mit Bestimmtheit u.

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