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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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skeptische u. sozialistische Berlin gewinnen u. behaupten können?? (in puncto Religion sagt Flamensbeck, das Program habe die Religion respectiert, soweit sie nicht ins Politische übergreife, u. er habe dies tückische soweit anfangs nicht in seiner Tücke erfasst – aber * Frl. Haberl erklärt doch, Fl. sei lange Zeit ein fanatischer Natsoc. gewesen ...) –
    Um unsern Ofen zu speisen berserkere ich mit Wonne auf dem Bodenraum: wertvolle Rahmenhölzer müssen daran glauben. Hätten wir nur ein Beil oder eine Säge. Ich entdeckte eine schwere Anschlagtafel des Stürmers. Welch ein Entzücken wäre es mir sie zu verbrennen!
    Bei schwerem Südsturm u. aufgeweichtem Boden halten wir uns heute viel zuhause. * Eva, sehr abgespannt, liegt viel, ich lese * Kristin Lavranstochter vor. Dazwischen ist mit Holz- u. Pappeherrichten u. mit dem Schöpfbrunnen u. den schweren Milchkübeln zu tun. Das Zimmer ist warm, u. das schweinerne Versöhnungsstück der * Gruber kocht.
    Im Augenblick schwelgen wir in Fleisch u. Fett u. jeglichem Nahrungsüberschuß; nur die Milch fehlt, u. das ist ein böses Memento. Da die Karten ausser Kurs sind, eine neue Ordnung u. Gewalt noch nicht durchgreift, so können wir in kürzester Zeit in Not komen. Aber aufsparen hätte gar keinen Zweck; wir müssen jede Chance, zu neuen Kräften zu komen, mitnehmen u. jeden Tag als ein für sich Bestehendes betrachten. Natürlich besprechen wir oft, ob u. wann u. wie u. wohin wir von hier fortkomen werden. Aber alles ist absolut dunkel. Nur dies beides nicht, daß wir keine Gestapo u. keine Bombe mehr zu fürchten haben, u. dies nur ist doch so viel, daß wir eigentlich katholisch werden müßten. –
     

 
    Sonntag 6. Mai 45 Amtshaus .
     
    Nach Tisch, 13 h . Bisher unangefochten hier. Kein * Bürgermeister, kein Amerikaner – bisher. Beim Essen liehen uns * * F. s ein Beil: so kann ich Rahmenleisten für den Ofen zurechthacken. Aus zwei Stühlen – veredelte Bauernstühle, Holz mit Herzchen in der Rückenlehne u. Gesäßvertiefung in der Sitzfläche, stehen viele im Bodenraum – u. aus zwei der strohgeflochtenen Kinderbahren hat uns * E. ein Regal gemacht. Es ist nun bei angenehmer Temperatur ganz gemütlich hier oben. Nur das zerrissene Schuhwerk u. die Strümpfe wollen nicht recht trocknen. Draußen ist der Boden noch immer aufgeweicht, u. der seit heute früh anhaltenden Regenstaupe ist bei anhaltendem Südsturm sehr zu mißtrauen.
    Das jüngste Gerücht – so etwas soll immer einer in irgendeinem Radio gehört haben: Deutschland habe vor * Eisenhower capituliert, kämpfe aber gegen Rußland weiter; * Goebbels habe sich u. seine Familie erschossen, * Hitler sei verschwunden.
    – Früh um 8 h. in der Kirche. Der große helle Raum sehr voll, ich mußte stehen. Wohl über 200 Personen da – das Dorf hat 400 Einwohner, freilich auch z. Zt. viele Flüchtlinge. Zwei Höhepunkte des Gottesdienstes. Zuerst eine Art Kinderschule oder = Vorführung. Jungen u. Mädchen traten auf scharfes Kommando im Mittelgang vor dem * Pfarrer an, das Gesicht ihm u. dem Altar zugekehrt. Dann wurden nacheinander drei Mädchen aufgerufen, die sich nun der Gemeinde zukehrten u. in eingelerntem correktem Deutsch u. Tonfall, aber seelenlos, Gedichte aufsagten. Die beiden ersten, eines über Golgatha (sehr, sehr lang), eines über die Liebe zum Heiland, beide weit über Kinderverständnis hinausgehend, dabei übliche katholische Art, blieben wirkungslos, wie eben Übliches u. Aufgesagtes wirkungslos bleibt. Aber als drittes Stück folgte zu meinem höchsten Erstaunen, ohne daß der Autor genannt wurde, * Liliencrons Wer weiß, wo?, 1 die Volkslied-Ballade vom Junker von Colin. Da gab es überall in der Kirche Thränen u. Schluchzen. Ein ungeheurer Erfolg für den norddeutschen Protestanten, so stark in einer oberbayrischen Dorfkirche zu wirken. Freilich, der zweite Weltkrieg hat ihm 9 / 10 dieser Wirkung verschafft .. Ich betrachte es als einen duldsamen Modernismus u. als eine Geschmeidigkeit des Pfarrers, daß er dies Gedicht vortragen ließ, das allerdings durch den generellen Todesgedanken der Schlußstrophe specifisch katholisch wirkt. – Unser Pfarrer ist ein Diplomat, sagte nachher beim Mittagessen * Flamensbeck, u. das stimmte auch zum zweiten Höhepunkt, der Predigt, die Moll vor dem Mittelgang stehend hielt; er sprach langsam eindringlich in schwäbisch gefärbtem Hochdeutsch, ohne die protestantische Öligkeit u. Weinerlichkeit, ohne Affektation, ohne falsche

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