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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Ausflug über den Boden u. hinterlassen Spuren. Ferner ist ein ganz junges drollig gemischtes junges schwarzes Köterchen da, Flocki, das alles zerkaut u. von Zeit zu Zeit hinausgeworfen wird. Dann Ri ch ard (mit spanischem ch), der derbe wilde Sechsjährige der verwitweten älteren Tochter Fl., der Bauer, jetzt barfüßig, komt herein, sitzt auf dem Sopha, plaudert mit uns, mit Asam. Am seltensten u. nur auf Momente läßt sich die verknitterte u. uns nach wie vor unverständliche Bäuerin sehen. – Häufig komt Besuch. Die Leute treten einfach ein, behalten den Hut auf dem Kopf, geben nicht die Hand, setzen sich auf die Bank, tun oft nicht den Mund auf, sondern warten, bis von der andern Seite her Gespräch in Gang komt. Hutabnehmen u. Handschlag sind ausländische Sitten. Dafür wird unterwegs jeder Vorüberkomende mit Grüß Gott begrüßt. – –
    Mir fiel auf, daß hier unter jedem Cruzifix die Gestalt der Maria angebracht ist. * Frau Steiner u. * Frl. Haberl sagen, dies sei die besondere bayrische Marienverehrung: Maria, patrona Bavariae 1 (sie sagen aber beide, auch die Lehrerin: patrona Bavari a 2 ).
    – * E s Gesundheit ist nach wie vor wenig befriedigend, ihre Magerkeit erschreckend. Besondere Quälerei für sie: der Tabakmangel. Jetzt nach dem Abzug der Soldaten finden sich nicht einmal mehr Stumel auf den Straßen. Mein besonderes guaio: der durchaus nicht heilende Daumen, das ganz gerissene, feuchte, drückende Schuhwerk, das schwere Wasserschleppen.
    Nun die Lebensgefahr vorüber, haben wir die kleinen aber summierten Leiden unseres Zustandes reichlich satt u. finden in seiner Romantik keine Entschädigung mehr. Aber das Gefühl der Dankbarkeit ist doch immerfort vorhanden, u. viele Stunden des Tages sind immer wieder genußreich. Bukolische Stunden sozusagen. Dazu auch volksnahe u. also lehrreiche.
    * Asam gab mir das von ihm 1930 benutzte Lesebuch für bayerische Volks-Fortbildungsschulen: Von der Schule ins Leben Verlag Carl Schnell, München .
    (Das Blatt mit dem Erscheinungsdatum ist herausgerissen) Asam sagte: das sei doch noch ein gutes Buch, es beginne Mit Gott. So heißt der erste Teil, der Religiöses bringt. Es ist wirklich ein gutes Buch, in aller Simplicität so reichhaltig u. belehrend, daß wir beide schon eine ganze Zeitlang darin lesen. Das Dorf, der Katholizismus, das Bayerntum (Heimatkunde u. bay. Geschichte) sind stark, aber nicht einseitig, nicht überbetont. Die Stadt, Deutschland, Religiosität schlechthin komen zu ihrem Recht. Man erfährt in einfachster, anschaulichster Form allerlei vom Wesen des Kapitals, vom (zu vermeidenden) Wechsel, vom Rayffeisenverein, von Hygienischem, von der MAN 3 u. ihrer Entstehung, von der Weimarer Verfassung . Man erfährt auch vom Elend des Versailler Vertrags, von Heldentaten im Weltkrieg – aber ohne Schmähung u. Verhetzung. Wenn vor dem Wucherer gewarnt wird, trägt er keinen Judennamen, auch ist ein (geistliches) Gedicht von * Hugo Salus abgedruckt, 4 u. im Trauerartikel über Versailles werden die Worte des Dichters citiert – bloß so: des Dichters, weil ihn eben jeder kennt, oder weil der Name bei so Volksliederartigem nichts mehr zur Sache tut: * Denk ich an Deutschland in der Nacht, / So bin ich um den Schlaf gebracht. 5 Nur * Anna Behnisch-Kappstein 6 – ausgerechnet sie! Ich sehe ihren * Mann bei meinem Vater! – kennt, gegen ausländische Mode schreibend, schon den deutschen Menschen ..
    N.B. Wie komt es, daß das entsetzlich abgeschmackte Gedicht von * Caesar Flaischlen, 7 das mir hier als Ganzes zuerst begegnete: Hab Sonne im Herzen mit seiner Headline 8 so berühmt wurde? Und besteht irgendein Connex zwischen diesem Hab Sonne im Herzen!, dem Sonny Boy 9 u. den sonnigen Kriegsgefallenen? Wahrscheinlich ja u. doppelt unbewußt: Tiefenzusamenhang in der natsoc. Weltanschauung u. sprachlicher Analogiezusamenhang. LTI .
     

 
    Mittwoch 9. Mai 45 Amtshaus. Vorm.
     
    Es ist so heiß, daß wir nach langem Anziehen, Frühstücken, Daumenverbinden etc. etc. – * E. flickte mein Jackett, meinen Schnürsenkel, ich rasierte mich, brach Dachsparren, holte Wasser ... – den Vormittagsweg in den Wald ganz unterlassen.
    Die drückende Todesgefahr ist von uns genomen, das übermäßige Hungern auch: schon widerstrebt mir die sempiterne weichliche Brodsuppe, 10 die uns * Frau Fl. jeden Abend mit Pellkartoffeln vorsetzt, schon fehlt mir Süßigkeit, quält mich Primitivität usw. Und E. verzweifelt über Tabaksmangel. (Gestern bekam sie

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