Klemperer, Viktor
wir heute früh eine Dorfprozession (zur Segnung der Felder). Erst kamen die kleinen Jungen, Fahne voran, dann die Männer, dann der Pfarrer im weißen Überhang u. mit seinen Chorknaben, dann die kleinen Mädchen, dann die Frauen. (Unter ihnen neben Dorftracht auch städtische, wohl Flüchtlinge.[)] Man ging in zwei Reihen an den Straßenrändern wie italienische Soldaten, oder wie Soldaten in einer aufständischen Stadt (1919!). 1 –
Dienstag 15 Mai 45 Unterbernbach. Amtshaus .
Etwa 14 h . * E. schläft noch, ich habe geschlafen nach der Anstrengung des heißen Wald- u. Nudelsamelweges am Vorm. Immer bedenken, was nicht mein Auftrag ist, so schön auch der Ginster blüht, Laub-, Tannen- u. Kiefernwald sich gegeneinander u. gegen den blauen Himmel abhebt, alle landschaftliche Schönheit im glitzernden Hitzelicht doppelt schön ist, etc. etc. Landschaft, Hitze, wohlige u. quälende Schlaffheit, Vorlesen, Schlafen, Vergnügen u. Mißvergnügen des Essens (Hier nährt man sich .., aber schon liegt der Nachdruck auf der zweiten * hémistiche 1 ). – Alles das füllt jetzt die Mehrzahl der gleichförmiger gewordenen Tage, u. die Sehnsucht strebt mit großen u. Alltagswünschen schon recht sehr (u. recht unbescheiden – oder ist es nicht unbescheiden? – viel Zeit habe ich doch schließlich nicht mehr vor mir ...) zum nächsten Lebensabschnitt.
Früh als ich frisch war, sagte ich zu E., ich hätte mehr als zwei Rosse im Stall, alle würden sie mir Freude machen, aber in dem Sattel irgendeines von ihnen käme ich nun gern zum Sitzen. Ich könnte: 1) eine Professur übernehmen, 2) ein Unterrichtsministerium 3) eine Redaction 4) die Arbeit am Cur. 2 5) an der LTI, 6) am 18ième, 3 7) an einer Weiterführung meiner mod. frz. Lit. Gesch. u. Prosa bis 1940. 4 Aber eines von diesen sieben Rössern möchte ich wirklich reiten, solange mein Herz es noch zuläßt. Und dazu Garten u. Musikmöglichkeit für E. u. Rauchen u. Alkohol für uns beide, u. noch einmal die Freude des Autos! Wann wird das in Erfüllung gehen? Wenn man heiß u. schwer mit Rucksack u. Tasche voll Nudeln beladen heimkomt, u. E. klagt um die Cigarette u. ich um das Getränk – dann machen bekomen alle sieben Rösser ein en illusorisches u. gespensterhaftes Aussehen. Noch geht keine Bahn, noch ist an Abtransport nicht zu denken, noch fehlt es an Kaffee, an Tabak, an Kleidung, an Bewegungsmöglichkeit, an Zeitungen, an Nachrichterhalten u. -empfangen. – Morgen ist unser 16. Mai. 5 Wir werden ihn leichteren Herzens begehen können, als in den vergangenen Jahren, aber feiern können, ganz materialistisch mit Wein u. Braten u. echtem Kaffee u. Tabak, feiern können wir ihn noch immer nicht. –
Der größte Eindruck der gestrigen Fahrt nach Aichach : auf dem Hauptplatz, dicht am alten Thor, weht am Fahnenmast, der so hoch ist, wie es die nazistischen waren, so groß u. stoffüppig wie das Hakenkreuzbanner, weiß u. rot gestreift mit den goldenen Sternen auf blauer Gösch das Banner der USA. Aus dem Bureau, das man im * Strasser schen Laden eingerichtet hat (Military Government – Militärregierung) hängt noch eine kleinere USA Fahne Fahne – aber den eigentlichen beherrschenden unauslöschlichen Eindruck macht doch dies Riesenbanner. Nicht etwa über einem Grenzstreifen gehißt (so wie wir 1920 eine Trikolore in Coblenz sahen), sondern im tiefsten Deutschland, in Centraloberbayern! Amerika, das Deutschland erobert hat. Amerika, das die alliierten Westarmeen geführt hat! Amerika, das im selben Augenblick Japan erobert! Amerika, das in einem ungeheuren Maß die russischen Arméen ausgerüstet hat!
Ich wartete um ½ 7 früh beim * Flamensbeck (sprich Flamenspeck, so heißt er hier) auf das Milchauto, ich mußte bis ¼ 9 warten u. zusehen wie die Schwalben durch die Fenster eines Nachbarstalls ein- u. ausflogen – es gibt hier viele Schwalben, es gibt hier keinen einzigen Spatzen, es gibt hier zahllose Gänse, Enten, Hühner, aber ich habe noch keine einzige Pute gesehen u. nur einmal eine kollern hören, ich habe auch trotz aller amerikan. Besatzung u. trotz Kühbach u. Aichach noch keinen einzigen amerikan. Panzer gesehen ... Das Milchauto darf nicht mehr alle Welt auf seinen wackelnden Milchkannen mitnehmen. Nach Sonderabmachung durch Fl. bekam ich als einziger Passagier einen Sitzplatz neben dem holländischen Chauffeur. Er fuhr, ohne irgendwo anzuhalten, über Inchenhofen nach Aichach durch u. setzte mich dort am Thor kurz vor 9 h ab.
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