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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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vielleicht nützlich sein, u. vermöchte ich das einer höheren Behörde in München plausibel zu machen u. gleichzeitig zu beweisen, daß ich ein Opfer der Nazis sei, so würde man mich vielleicht rasch heimbefördern. Frau St. meinte lachend, ich müßte mit der ‹arroganten Wienerin› in Aichach sprechen. Ich glaube, die Schwestern dürften sich nun auch schon einige Gedanken, richtige Gedanken, über meinen Paß machen. –
     

 
    Samstag 12. Mai 45. Amtshaus .
     
    Nach 7 h. früh . Um ½ 10 soll es in Kühbach Brod geben. Ich will gleich nach dem Frühstück hin. Auch ist es jetzt noch kühl. Später komt wieder die schwere Hitze, die gestern den ganzen Tag lang herrschte. Seit Tagen scheint ein Gewitter bevorzustehen – die Luft ist wässrig –, komt aber nicht. – Gestern bis 18 h fast nur zuhaus: Lectüre, Schlafen, Lectüre ... Danach ein kleiner Spaziergang in ein uns neues Gebiet. Von der Kirche am SO-Rand des zweilappigen Dorfes geht es in NO-Richtung dicht am Bahndam über Wiesengelände in ein eigentümliches Waldstück: Sumpfwald mit vielen hellgrünen Laubbäumen, darunter Eichen, u. sehr hohen dunklen Tannen; am Eingang dieses Waldes liegt ein verschilfter Tümpel[,] in dem es hunderte von quakenden Fröschen geben muß, ihr Gebrüll beherrscht die Gegend. Wir wollen heute Nachm. wieder dorthin auf Tannennudeln. –
    Dann, nach unleidlicher Brodsuppe bei * Fl. u. tröstlichem Kaffee bei * W., langer Abendbesuch b im Schulhaus, wir hörten zum erstenmal den Sender des Military government s aus Luxemburg über München geleitet. Ein Stück Weltgeschichte fehlt uns. Jetzt liegt es offenbar so, daß sich Restbestände, oft sehr große, der zersprengten deutschen Heere, jeder Teil als ein für sich bestehendes Element[,] ergeben. In der Tschechei scheinen einzelne Gruppen noch Widerstand zu leisten u. eingekreist zu sein; in Dänemark u. Norwegen ist capituliert worden. Ein wirklicher Überblick über die Lage war nicht zu gewinnen. Existiert so etwas wie eine deutsche Regierung oder irgend ein deutsches Gesamtwesen? Mit wem verhandeln die Alliierten? Was ist mit Berlin? Was mit Dresden? * Ich bin so klug als wie zuvor. 1 Es wurden noch eine lange Reihe Verfügungen mehrsprachig durchgegeben, die ausländischen Arbeiter u. die befreiten Kz-Leute betreffend, die sich an bestimmten Stellen zu melden haben u. bis zum Abtransport in Lager überführt werden; man scheint sehr energisch vorzugehen – ausdrücklich wurde betont, daß geraubte Fahrräder den Deutschen zurückgestellt werden. (Cf. das Gerücht über Krieg zwischen USA u. Rußland.) – Wir plauderten noch lange über * Voßler, über die künftige deutsche Schule, über unsere (der Nazigegner) Aussichten. Ich hielt den optimistischen Part. Mit Überzeugung?? Ich weiß es selber nicht. Ich weiß nicht einmal, was ich mir wünsche.
    Nach 16 h . Der Kühbach-Weg war nur in der ersten halben Stunde angenehm, danach quälte die Hitze. Ich kam genau um 10 h ins Dorf, bekam auf Bitten ein 3
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-Brod, dazu ein paar Streichhölzer geschenkt, nach langem Schlangestehn im Peterhof 2
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Fleisch, deren Kochen eben viel Unbehagen verursacht: es ist dabei unsäglich heiß, u. der Ofen frißt alles, was ich gestern an Dachsparren zerhackt habe – u. viel mehr ist nun aus dem Bodenraum nicht herauszuholen; aber es gab keine Wurst, keinen Speck. Mehr war nicht aufzutreiben. Auf dem Rückweg mi-chemin 2 zwischen Kühbach u. der Kapelle, wo der Weg nach Haslachkreit 3 zu umbiegt, traf ich einen jungen Bauern, mit demch schon beim Hinweg ein paar Worte gewechselt hatte. Er lud mich ein auf seinem Leiterwagen ein Stück mitzufahren – bis zur Kapelle. Unterwegs politisierte er, nicht ganz unbeschlagen. * Brüning habe in seiner letzten Rede in Augsburg gesagt: Was Sie unternehmen wollen, Herr * Hitler, das könnte ich auch tun, wenn ich wollte; aber es würde zur Katastrophe führen. Er, der Bauer, u. seine Landsleute hier, seien nie für Hitler gewesen; diese Verbrecher hätten das Land am liebsten ganz vernichtet, um es mit sich nicht allein unterzugehen; sie hätten das auch gewiß noch ganz zuwege gebracht, wären nicht die Amerikaner so überraschend schnell gekomen. Dies war das Interessanteste: er sprach von den Am. buchstäblich als von unsern Befreiern . Es sei auch nicht wahr, daß sie uns untergehen lassen wollten, sie hätten bereits ausdrücklich versprochen, genau so viel Nahrung an Deutschland zu liefern wie an das übrige Europa. Ich: es

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