Klemperer, Viktor
liege ihnen gar nichts daran uns zu vernichten, sie wollten ja Geschäfte mit uns machen. Er: ja, er sei ganz gewiß, jetzt komt der Jud wieder u. macht seine Geschäfte wie zuvor. Das war aber durchaus nicht antisemitisch gemeint, anzi! Vordem sei es uns viel besser gegangen. Man hätte ja, wenn man wollte, die Juden aus den Staatsämtern entfernen oder besteuern können, aber man durfte sie doch nicht so behandeln u. vertreiben, man durfte nicht gegen alle Religion u. Sitte vorgehen ... (Erinnerung an 1915: Der Jud ist an sich noch keine antisem[.] Äußerung). Von der Kapelle Aus Unachtsamkeit oder des starken Graswuchses halber, wahrscheinlich aus beiden Gründen, kam ich zwischen Haslangkreit u. Ub. 4 vom Wege ab, merkte es erst, als ich eine sehr wacklige Brücke passierte u. Radersdorf dicht vor mir sah. Ich wollte weiter darauf zu, da war die Paar noch einmal vor mir, diesmal brückenlos, u. es blieb nichts übrig, als umzukehren u. den richtigen Wiesenpfad zu suchen. Ich verfehlte ihn noch einmal, mußte quer durch das hohe nasse Gras – es war sehr hübsch mit seinen gelben Wiesenblumen u. den schon verblühten grauweißen, mit allem vielen eingestreuten Vergißmeinnicht, mit ... aber das ist nicht mein Auftrag, so wenig wie die heiße Mittagsstille u. das seltsame Graublau der heißen Ferne, so wenig wie die Weidenbüsche, die Wasserstreifen u. Tümpel, der Sumpfwald usw. usw. Es war sehr hübsch, aber auch sehr anstrengend, u. zweimal mußte ich über Wasserstreifen springen, einmal einem voranhopsenden Frosch nach, ehe ich den richtigen zur Unterbernbacher Mühle führenden festen Pfad erreichte. Ich war erst um 12 h zurück, durchschwitzt u. müde.
Sonntag 13 Mai 45 Amtshaus. 15 h .
Als vorgestern das Licht wiederkam, hieß es noch, verdunkelt müsse weiter werden. Das wurde gestern widerrufen, u. gestern am 12. Mai 45 also sahen wir das erstemal seit dem 1. Sept. 39, seit bald sechs Jahren, beleuchtete Fenster. Nur wenige Fenster im Dorf, u. doch sah der Ort gleich ganz anders aus. Es war ein großer Eindruck.
Aber was hilft alle Bewußtheit der überstandenen Not – du darfst beleuchten, du darfst seelenruhig der unaufhörlichen Fliegerei zuschauen, du hast keine Gestapo zu fürchten, du hast wieder gleiche – nein, wahrscheinlich mehr Rechte als Deine Umgebung, was hilft das alles? Guai sind lästiger als Todesnöte, u. die guai sind jetzt sehr gehäuft, u. unsere Resistenzkraft u. Geduld ist sehr erschüttert. Die furchtbare Hitze, dazu die große Mückenplage. Das mangelnde Getränk – jetzt ist auch dem Gasthaus der Kaffee ausgegangen. Der Mangel an Wäsche, die unsägliche Primitivität in allem was zum Essen gehört: Teller, Schüssel, Tasse, Löffel, Messer, teils (oder meist) ganz fehlend, teils völlig unzulänglich. Auf die Dauer (u. in der Hitze) die Qual des unzulänglichen Servierens bei * Fl. – wenn die * Frau anrichtet, bekomt [ wir ] noch nicht einmal jedes einen Teller –, die Roheit der Zubereitung – heute zum erstenmal widerstrebte mir der warme quabblige fast rohe Speck, die fade Brodsuppe peinigt mich schon seit Tagen. E. ihrerseits leidet qualvoll unter dem Rauchmangel, sie kann auch nicht wie ich Wasser trinken. Ich weiß, alles das klingt komisch, man könnte auch sagen: unbescheiden, nach allem was wir vorher zu erdulden hatten; es ist nur Calamität des Alltags. Aber als solches quält es eben ungemein. Wir warten sehnsüchtig auf das Fortkomen aus Ub.
Gestern am späten Nachm. einen Rucksack Tannennudeln im neuen Sumpfwald gesamelt. Nach dem Abendbrod den Zusamenfluß der Paar u. ihres Kanals im Wiesengelände an der Bahnstrecke durch erforscht. Am Zaun des Schulhauses u. unter der Dorflinde mit * Frau Steiner u. * Frl. Haberl geplaudert. (Imer die gleichen Themen u. Fragen natürlich.) Bei * Wagners eine Tasse Milch erbettelt. – Heute Vorm. weit draußen in unserm Wald, Rucksack u. große Handtasche vollgenudelt, vorher schon Holz gehackt – Reste des mit dem Beil Erfaßbaren; einer Säge dürfte mein Herz nicht gewachsen sein .. Bei alledem strahlendes, unbarmherzig strahlendes Wetter, blauer Himmel, leuchtend gelber Ginster; bei alledem Erschöpftheit u. starkes Unbehagen. – Stundenlanges Vorlesen; sehr vieles an der * Undset fesselt sehr, sehr vieles aber bleibt auch dunkel, ein ganz reiner Genuß ist sie mir nicht, vor allem: sie fördert in nichts meine eigenen Arbeitspläne. (Vor denen ich mich immer mehr fürchte.) Vom Fenster aus sahen
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