Klemperer, Viktor
Government bekomen ... Die Läden in Aichach waren geschlossen, eine Frau sagte mir, Brod oder Fleisch sei zu haben – also das, was ich am Samstag in Kühbach bekomen hatte – sonst nichts. So ging ich unmitttelbar zurück u. vollbrachte eine ganz hübsche Marschleistung. Ich ging, wiederholt von der Landstraße abweichend, unmittelbar neben dem Bahngleis. Zugverkehr fehlt noch, auf dem Bhf in Aichach steht eine Locomotive[,] in die Sprengstücke große Löcher gerissen haben; unterwegs trifft man auf einzelne Güterwagen, auf die Reste von Flak aufmontiert scheinen, man trifft auch auf Heimkehrer der versickernden Armee. Um ¾ 10 hatte ich den Hauptplatz in Aichach verlassen, um ¾ 12 saß ich bei * * Flamensbecks u. wartete auf * E. –
Abends im Schulhaus sagte ich, ich wollte nicht mehr mit verdeckten Karten spielen, berichtete u. zeigte meinen Judenpass. Wir haben schon Ähnliches vermutet – Und wir nahmen auch von Ihnen an, daß Sie einigermaßen im Bilde sein dürften. Die * * beiden (auch Frau St. ist vor ihrer Verheiratung Lehrerin gewesen) erzählten dann von ihrer Liiertheit mit Juden – Freundschaft, in der Verwandtschaft, Mitleid, Parteirichtung –, vom Münchner Ghetto, von mehreren Fällen, wo Juden gestorben, mit anderen Papieren u. Namen auferstanden u. so durchs dritte Reich gekomen seien. Es wurde ein langer u. intimer Abend, leider bekamen wir eine Tasse echten Thee – leider, denn die Bewirtung macht es uns unmöglich, jeden Abend ins Schulhaus zu gehen.
16. Mai 45. Amtshaus, vor 6 h früh. Mittwoch
Ich habe es 5 schlagen hören, es hat eben geläutet, wird also wohl 5 45 sein. Die fehlende Uhr ist unsere ständige Beunruhigung: das Zifferblatt des Kirchturms läßt sich nur manchmal u. bei besonders guter Beleuchtung ablesen, die Uhr schlägt nur die volle Stunde, u. der Wind muß günstig stehen, daß man das Schlagen hört. –
Gestern zweimal im Wald u. zwei Doppelladungen (Rucksack u. Handtasche) Tannennudeln gesamelt; zuhaus viel vorgelesen.
Die Ereignisse des Alltags: 1) die komische u. beinahe jämerliche Wandlung des * Bürgermeisters Munz, 2) der Beschluß[,] heute wieder u. gemeinsam nach Aichach zu fahren. Der Bürgermeister, nur noch zu gelegentlichen Amtsstunden von seinem Gut herüberkomend, war nie unhöflich, aber auch nie sonderlich warm zu uns. Bis uns die Amerikaner aus dem beschlagnahmten Haus hinauswürfen, könnten wir ja hier wohnen. Gestern Mittag nun – er muß einen Tag früher in Aichach gewesen sein, als Miss Lazar annahm, es ist nicht klar, ob sie oder wer sonst mit ihm gesprochen hat, u. was ihm gesagt worden ist. Jedenfalls: er sprach uns im Hausflur an, wie wir uns fühlten? Er nötigte, wirklich: nötigte uns in sein Amtszimmer u. war ganz Courtoisie, herzliche, ja betont christliche Anteilnahme u. Nächstenliebe. Buchstäblich: man müsse doch dem Nächsten helfen, er habe in Aichach mit der Commandantur in unserer Sache gesprochen – ER! Als sei dies Gespräch von ihm eingefädelt worden –, wir dürften jetzt legitim mit amerikan. Erlaubnis im Amtshaus wohnen bleiben. Und wie es um meine Kleidung stünde. Vorräte seien nicht mehr da, die Polen hätten alles für ihre Ausrüstung gebraucht, aber er wolle aus Eigenem aushelfen, mit Schuhen, mit einer Jacke, wir hätte ja ungefähr die gleichen Maße, am Donnerstag sei er wieder hier, u. ob wir mit Mehl u. Kartoffeln versehen seien, u. ob wir uns wohl fühlten .... Ich sagte ihm, ich sei in Dresden ein ziemlich hohes Tier gewesen, das man wohl zum Neuaufbau des Schul- u. Hochschulwesens gebrauchen werde, meine Bücher seien in USA bekannt etc. Er konnte sich wohl denken, daß ich solch alto papavero 1 nicht unter nazistischem Régime war, denn in diesem Falle würde ich ja jetzt bestimmt nicht gebraucht. Was er sich des Weiteren denkt oder weiß, ist mir unbekannt. * E. nimmt an, er habe von amerik. Seite einen kurzen Befehlswink bekomen: Nehmen Sie sich des Professors K. an! E basta, zumal der Mann Butter des dritten Reichs auf dem Kopf hat. Jedenfalls: Herr Munz nahm es beifälligst auf, ja natürlich, wir würden alle am Wiederaufbau Deutschlands mitarbeiten müssen. Aber ein Weilchen müßte ich mich doch noch in Unterbernbach gedulden, u. da will er eben für uns sorgen. – – Mittelalterlich: gestern verfolgter, mißhandelter, bedrohter als eine heimatlose Katze, u. heute kriecht mir der nazistische Tyrann dieses Dorfes in den Arsch (um es im treuen Deutsch u. Bayrisch zu
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