Klemperer, Viktor
roter Gebäudecomplex am Ostfriedhof, ein offenes Viereck mit ungleich großen u. ungleich gebauten Seitenflügeln, mit einem rückwärtigen Klotz in der Mitte der Frontlinie, mit eingebauter Kapelle, mit besonderem Stall- u. Waschhaus, mit großem Garten u. sehr großem Gemüsegarten. Es ist eigentlich merkwürdig, daß die Luft hier draußen staubfreier, ländlicher, daß alles friedlicher scheint als in der Stadt selber, daß ich hier ruhiger athmen kann u. nicht das ganze Grauen der Zerstörung empfinde. Denn an Zerstörung fehlt es hier ganz u. gar nicht. Gegenüber steht die antik wirkende Kirchenruine, von der ich schrieb, gegenüber liegt der sinnlos unsinnig verwüstete Ostfriedhof – man muß ihn schon einigermaßen gesäubert haben, denn sicher sicher haben in den riesigen Trichtern zerschmetterte Särge gelegen u. Leichenteile waren verstreut wie jetzt noch Teile von Grabmälern. Umgeworfene Monumente, geköpfte Engel, zerbrochene Gestalten überall. Überall auch zersplitterte oder entwurzelte St Bäume. Große Breschen in der äußeren Umfassungsmauer. Und weiter sehen wir dicht beim Hospital demolierte Häuser. Und das Stall- u. das Waschgebäude sind zerstört, z. T. schon wieder geflickt; u. ein Flügel des Hauptgebäudes selber ist getroffen, u. mitgenommen ist der ganze Bau: unser Speisesaal, in dem ich schreibe, hat statt der Fenster so etwas wie gelatinierte Drahtnetze, u. in den Fensternischen u. an vielen Stellen der Decke u. der Wände gibt es Ri ist der Verputz abgefallen, sieht tritt der nackte Backstein hervor, klaffen Risse, u. viele Türfüllungen haben gelitten. – Trotzdem: hier ist man draußen, allenfalls im Limbo, 1 bestimmt nicht im Inferno München. – Das Spital ist ein katholisches Altersheim, es soll 500 Männer u. Frauen zu Insassen haben. Zur Zeit ist es überfüllt mit überall hingestopften Flüchtlingen jeglicher Art: man weist ihm heimkehrende Soldaten zu, arische Flüchtlinge, Juden, Dachauer Kzleute. Ein Teil dieser Flüchtlinge – sie komen u. gehen, ich weiß selten woher, noch seltener wohin, denn niemand komt ja aus München heraus – campiert im Luftschutzkeller u. ißt in unserm Speisesaal. Es gibt mehr Abteilungen u. so auch sicher mehr Speisesäle u. Menschengruppen; die Schwestern (einige mehr energisch als sanftmütig) klagen, es sei nicht zu bewältigen, zumal das Gas zum Kochen ausfalle u. die Nahrungsmittel immer knapper würden. Wir beide haben, wiegesagt unsere Betten auf einem langen Gang der Abteilung für Männer u. Eheleute. Auf dem Gang liegen mehrere Frauen Tag u. Nacht. Die an den Gang stoßenden Zimmer sind stark belegt. Abends u. Morgens schleichen alte u. uralte Männer den Nachttopf in der Hand zum Closet. Schneewittchen ist hier etwas durchaus Schickliches. Ein noch halbwegs mobiler Mann macht führt morgens u. Abends ein freundschaftliches Gespräch mit uns, während er den Topf wie ein Brunnenglas in der Hand hält. Er (der Topf) ist hier übrigens durchweg aus Porzellan. Wir wissen schon, daß er (der Nachbar) mit Versuchstieren für Kliniken handelte, u. daß seine Frau Gesellschaftsdame oder Zofe in Dresden war. Kleine, ganz kleine Leute die old men and women. Und die meisten von ihnen vollkomen vergreist, körperlich u. geistig. Acht Männer essen im gleichen Saal wie wir. Sie vergällen mir den Katholizismus. Sie beginnen jede Mahlzeit mit einem so ganz entgeistet u. verblödet psalmodierten endlosen u. endlos wiederholenden Gebet – Ave Mária etc. etc., daß sich mir ich keine Spur von Gefühl mehr darin entdecken kann. Die bedienende * Schwester (die energische) leiert mit, ohne sich im Austeilen zu unterbrechen. Ist die Litanei zuende, dnn schlucken die Alten in unglaublich rascher Zeit, was man ihnen in ihre großen Blecht Blechtassen oder bols 2 gefüllt hat, u. ehe wir andern die Suppe halb gelöffelt haben, rollt drüben schon die Nachtischlitanei. Ich empfinde geradezu ein Schamgefühl, wenn ich das mit anhöre. Das ist Frömmigkeit. Nein, es ist nichts mit dem Katholizismus, mit der Kirche usw. All das läuft aufs s abêtir 3 hinaus. * E. hat recht, man muß sich überraschen lassen ... Schneewittchen ist nicht die einzige Unappetitlichkeit hier. Schiißl, Nachtstuhl, podchambre 1 spielen eine große Rolle, wenn die Schwester um 4 Uhr morgens sich mit den Bettlägerigen alten Frauen auf dem Gang beschäftigt. Im übrigen sind Clo- u. Waschräume hier recht elegant, gekachelt u. mit heißem Wasser versehen – aber es
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