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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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fehlt an Bewegungsmöglichkeit u. Alleinsein, ich kann sie nicht gut benutzen.
     

 
    Mittwoch früh ½ 7. Speisesaal 23. Mai 45 .
     
    Ins Hemd- u. in die Hosenkommen im Intervall der defilierenden Schneewittchengreise u. der in ein paar Meter Distanz ihre siechen Greisinnen auf den Nachtstuhl setzenden Schwestern. Auf dem Wege zum eleganten (s. o.!) Waschraum die * Schwester Tudela, die energische, * E. sagt die unbarmherzige Schwester raisonnieren hören: die Sauerei mit denen Flüchtlingen!, im eleganten Waschraum das Wasser gesperrt finden. Sich nur ein bisschen Hände u. Gesicht am Wasserhahn des Gangs spülen können. Ohne Seife – denn unser kostbares von * Fr. Haberl geschenktes Stück ist gestohlen worden. Im nun ganz zerrissenen Schuhzeug haltlos wie in zu großen Pantoffeln herumlaufen, u. die Riesenlöcher der Strümpfe sehen heraus .. – Die Verpflegung hier immer unzulänglicher geworden u. immer stärker begleitet von den Jamerrufen der unbarmherzigen Schwester, daß es an allem fehle, u. wie lange man bleibe. Gipfelpunkt gestern Abend: von heute 235. ab keine Verpflegung mehr, nur noch den nackten Kaffee, man müsse sehen sich in der Stadt zu beköstigen – die alten Leute klagten, den Flüchtlingen ginge es besser als ihnen! (aber ich selber sehe, wie ein paar Angestellte des Heims wesentlich besser verpflegt werden als die bösen Flüchtlinge.) – Im Haupteingang hängt ein hübsches großes Ölgemälde: der heilige Martin beugt sich vom Pferd zur Bettlerfamilie: er hat nur noch den halben Mantel um, die andere Hälfte trägt der bettelnde pater familias Alte schon. – Die Litanei der alten Männer, das Verhalten der unbarmherzigen * Schwester: meine Schwärmerei für den Katholizismus läßt nach.
    – Es wird Zeit, daß wir fortkomen, u. eine ganz winzige Hoffnung dafür hat sich aufgetan: heute soll ich mit dem Dr * Maron in Verbindung komen. Die Oberin hier hat E. erzählt, ein jüd. Anwalt u. ein jüd. Arzt hätten in kürzester Zeit, nach 2 Tagen, ein Auto gestellt erhalten, in dem sie nach Frankfurt weitergefahren seien. Daran knüpft E. Hoffnungen, etwas Ähnliches müsse auch mir zuteil werden. Ich glaube das nicht, aber ich will das Mögliche versuchen.
    Solidere Hoffnung auf Fortkomen in absehbarer Zeit geben diese Auflockerungen der letzten Tage: seit Pfingstsonntag ist die Sperrstunde von 19 auf 21 h verlegt worden; seit gestern verkehren Trambahnen von hier bis zum Sendlinger Tor; von heute an ist der Zutritt zum Rathaus erlaubt. Zu diesen Tatsachen tritt, was erzählt wird und glaubhaft scheint, da ja die Amerikaner ganz offenbar rasch zu normaleren Zuständen gelangen wollen, daß Anfang Juni Eisenbahnverkehr u. Civilverwaltung komen sollen. – –
    Das Glutwetter u. die Aussicht auf den Tramverkehr hatten uns am Sonntag dazu verleitet, allzuwenig von unserm Gepäck herüberzuschaffen; Mäntel u. wärmeres Kleid für * E. blieben beim Bäcker (den ich gestern – Stecknadel im Sack! – am Maximilianeum traf). Nun gab es Montag Abend das Gewitter u. gestern anhaltenden Regen u. geradezu bittere Kälte, die auch heute noch kaum gemildert ist. Besonders E. war schlecht daran. Wir saßen den ganzen Vorm. im Speiseraum, den Aben ebenso – E. nähte, ich schrieb. Zwischendurch rasierte ich mich – Schwester * Tudela murrte –, wozu mir ein Landser den Pinsel borgte, der meine liegt beim Bäcker!
    Am Nachm. wanderte ich dann mit geliehenem Spitalschirm bei etwas gebessertem Wetter nach der Kaulbachstr. Mein erster alleiniger Gang durch diese Stadt, die ich nie topographisch gemeistert habe, u. die nun ein so anderes Aussehen bekomhat. Er glückte u. war mir recht lehrreich – wenn ich mit E. gehe, verliere ich immer den geographischen Faden, folge blindlings. Es fiel mir doch wieder wie schon im April auf, welch grandiose Stadt München ist oder gewesen ist. Die Prunkbauten der Prinzregentenstr., die schönen Isaranlagen, der tosende milchige Strom, die weiten Rasenflächen des wahrhaft englischen (anglais nicht angélique 1 ) Gartens. Abscheulich wie die Bomben an den Rändern des Parks gewütet haben: Trichter im Grünen, zerschlagene Gebäude in den angrenzenden Straßen.
     

 
    Donnerstag früh 7 h. Speiseraum 24 Mai 45 .
     
    Gestern wieder ein dies ater, noch schlimmer als der schwarze Freitag unserer Ankunft. Am Die. Nachm. in der Kaulbachstr. war es ähnlich zugegangen wie beim erstenmal, nur kam ich etwas rascher durch. * Neuburger gab mir wieder ein paar Zeilen an

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