Klemperer, Viktor
Fülle ihrer Cigarettenstummel, u. die Deutschen sameln die Stummel auf. Die Deutschen? Wir , die Befreiten, schleichen zu Fuß, wir bücken uns nach den Stummeln, wir die wir gestern noch die Unterdrückten waren, u. die wir heute die Befreiten heißen, sind schließlich doch nur die Mitgefangenen u. Mitgedemütigten. Merkwürdiger Conflikt in mir: ich freue mich der Rache Gottes an den Henkersknechten des 3. Reichs – heut ist Muschelchens Todestag 2 , sagte * E. am 20., u. ich: es ist jedes Haar seines dichten Fellchens mit einem deutschen Leben bezahlt –, u. ich empfinde es doch als grausam, wie nun die Sieger u. Rächer durch die von ihnen so höllisch zugerichtete Stadt jagen.
Im übrigen machen die Amerikaner weder einen bösartigen noch einen hochmütigen Eindruck. Sie sind überhaupt keine Soldaten im preußischen Sinn. Sie tragen keine Uniformen sondern Monteuranzüge, Overalls oder Overall-ähnliche Combinationen aus hochreichender Hose u. Bluse in graugrüner Farbe, sie tragen kein Seitengewehr, nur eine kurze Flinte oder einen langen griffbereiten Revolver, der Stahlhelm sitzt ihnen bequem wie ein Civilhut auf dem Kopf, nach vorn oder hinten gerückt, wie es ihnen paßt. Unten an der Isar stand einer mit im Stahlhelm mit aufgespanntem Regenschirm, eine Camera in der Hand – der Schirm schien für die Camera dazusein. Marschieren habe ich noch nicht die kleinste Gruppe sehen: alle fahren – wie, das beschrieb ich schon. Auch der Verkehrsschutzmann hat nicht die straffe Haltung u. Bewegung des Deutschen. Er raucht im Dienst, er bewegt den ganzen Körper, wenn er mit schwungvoller Armbewegung die Wagen dirigiert, er erinnert mich an Filmaufnahmen von Boxkämpfern, vielmehr von Schiedsrichtern, die um die Kämpfenden kreisen, sie trennen, auszählen ... Ich sah einen Negersoldaten mit goldenen Ringen wohl an jedem Finger einer Hand u. mit goldenem Armband. Ich sah aber auch einen völlig angelsächsischen blonden Jungen mit dickem silbernem Armband. Schwarz oder weiß, die Leute scheinen mir kindlicher, primitiver. Mit der Kindlichkeit hängt es wohl auch zusamen, daß die Wagen Eigennamen haben. (Vorsicht im Schlüsseziehn: man nennt es nüchtern u. gefühllos, wenn die USA[-]Straßen gezählt statt benannt werden. Aber wenn daß ein Militärauto durch Namen versel intimer gemacht wird, komt nun wieder in Deutschland nicht vor, wenigstens offiziell u. allgemein nicht. Höchstens Dicke Bertha 3 .) Ein kleiner Wagen trug die Aufschrift: Alles kaputt. Das war wohl die gleiche Gesinnung wie in der Kreideinschrift auf einer Hausmauer: Tod den (sic) * Hitler wobei die Hitler für die Hitlerleute stehen mag. An der Feldherrnhalle steht mit Riesenlettern sorgfältig gemalt: Ich schäm Buchenwald, Velden (?), 4 Dachau – ich schäme mich ein Deutscher zu sein. Folgt der Name des Autors, den ich nicht entziffern konnte. In nächster Nähe steht an einem Haustor, kleiner u. nur mit Kreide, nicht so monumental u. fixiert wie der vorige Satz: Au pays des Crématoires. 5 Es gibt hier auch französische Besatzung, ich begegne oft Wagen mit der französischen Flagge u. der großen weißen Aufschrift French, ich habe auch schon an Häusern, offenbar Militärquartieren, die Tricolore gesehen. So ist es mir auch nicht gewiß, daß alle farbigen Truppen hier Amerikanisch sind. Öffentliche Gebäude dienen da u. dort als Kasernen. Die Posten davor schildern nicht immer wie unsere; sie sitzen mit lang ausgestreckten Beinen fleetzig auf Stühlen, haben Kameraden bei sich, plaudern. An Brückenköpfen sah ich Einzelposten sehr lässig auf dem bloßen Boden sitzen, das kurze Gewehr über den Knieen.
Häufig fährt ein mit Johlen ein johlenden Civilisten vollgepfropfter Wagen durch die Straßen, irgend eine farbige Fahne zur Seite. Das sind dann befreite Civilarbeiter, polnische, jugoslavische, griechische, russische .. Auch diese Fuhren bilden einen Teil der deutschen Demütigung. Die Sklaven von vorgestern, die Plünderer von gestern sind jetzt die Erlösten u. Triumphierenden. – Wahrscheinlich, nein sicher wäre ich gegen den Anblick der Sieger weniger empfindlich, sicher fühle ich intensiver die Befreiung, die sie mir ja wirklich gebracht haben, wäre ich nicht auf diese peinlichen Schwierigkeiten in München gestoßen. Immerhin: daß ich keinen Alarm u. keine Gestapo mehr zu fürchten habe, bleibt auch inmitten der Münchner guai unvergessen.
Das zweite Neue dieses Aufenthalts ist das Martinsspital. Ein riesiger
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