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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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vorlesen wie im Garten. E. näht am Fenster, u. ich schreibe, schreibe.
    Das Neue dieser im Ganzen doch nur als qualvoll zu bezeichnenden Tage – im Ganzen, denn irgend einen hübscheren Augenblick hat jeder Tag – ist nun einmal die Hölle München u. zum andern die Eigentümlichkeit u. in seinem jetzigen Zustand besondere Eigentümlichkeit des Martinspitals.
    Ist Münchens Höllenzustand seit dem April wirklich höllischer geworden, oder bin nur ich empfindlicher geworden? Wahrscheinlich sind durch die Angriffe des letzten Monats weitere Zerstörungen hinzugekommen, u. was man inzwischen an Aufräumungsarbeiten geschafft worden – der Bagger am Bahnhof arbeitet noch immer, ohne daß man ein Abnehmen des Schutthaufens bemerkt – läßt die Vernichtung nur noch stärker hervortreten. Auf all unsern kilometer-kilometerlangen Gängen durch Innen- u. Aussenbezirke, vom Südosten nach Südwesten u. Nordwesten: überall dasselbe Bild in immer neuen Variationen, mit immer neuen Kinoeffekten: völlige Geröllhaufen, Häuser, die unversehrt scheinen u. nur noch Coulissen sind, Häuser mit abgerissener Seitenmauer u. dachlos, aber die einzelnen Stockwerke, die einzelnen Zimmer mit ihren verschiedenfarbigen Tapeten sind noch da, irgendwo ist ein Waschbecken erhalten, schwebt ein Tisch, steht ein Ofen, Häuser die innen ausgebrannt sind .. Dazwischen immer wieder leicht lädierte, auch schon ausgeflickte, bewohnte. Als Ganzes wirkt das grausiger als ein absolutes u. ganz verlassenes Geröllfeld. Dazu die furchtbaren Zerstörungen der großen öffentlichen Gebäude u. besonders der Kirchen. Unserm Spital gegenüber steht eine riesige, elegante, moderne Kirche. Das Dach ist fort, die gesamte Inneneinrichtung ist fort, es stehen nur die gewaltigen hellen Mauern. Und da hier schon aller Schutt fortgeräumt ist, hat man durchaus den Eindruck eines freigelegten antiken Bauwerks, irgendeines Paestumtempels. 1 Und in bewohnten Straßen denke ich immer an Rom: menschliche Wohnungen, armseliges Gegenwartsleben in Baureste des Altertums geklebt. Vieles erinnert auch an Messina 2 : ein Dach, ein oberes Stockwerk sind wegrasiert worden, man hat ohne alle Aesthetik etwas über den Rumpfbau gedeckt u. ihn bezogen .. Grotesk ist die Mariahilfer Kirche: ihrem Turm fehlt ein Drittel, wenn nicht die Hälfte der Basis, er sieht aus wie ein weit genug eingekerbter Baum, den man nun mit einem Seil zum Sturz bringen wird. Der große Platz davor – wegen Einsturzgefahr des Turms gesperrt – ist hoch belegt mit zusamengeräumten Schutthaufen; Stümpfe abge splitterter rissener Bäume ragen dazwischen. (Abgebrochene, dabei teilweise grünende Bäume sehen besonders grauenvoll aus) Einzelheiten descriptiv zu geben steht wieder ausserhalb meines Auftrags. Aber den Jammer der ganz zerstampften uralten Auhäuschen will ich erwähnen. Bisweilen erkennt man im Schutt zwischen den noch stehenden Mäuerchen ein eisernes Bett, einen Kochtopf .. Das Merkwürdigste, wenn zwischen alledem irgendeine Hütte unversehrt stehen geblieben u. bewohnt ist. Neben dem Elend der winzigen Häuschen die Ruinen einer großen Fabrik, über ihnen u. den schönen grünen Hügelanlagen an der Hohen Straße die Ruinen der mächtigen Bräukeller (Franziskaner etc.). Aber den furchtbarsten Eindruck erhielt ich am Sonnabend Nachm., als wir jenseits (westlich) der Bahnstrecke von Laim komend die Erzgießereistr. anstrebten. Längs der Strecke liegen (oder lagen) große Gebäude des Zolls, des Eisenbahnverkehrs etc. Hier ist alles zerstört, u. die ungeheuren Schuttmassen versperren den Weg, u. die brüchigen Ruinen u. die schwebenden u. phantastisch hängenden Balken, Betonklötze, Blechdächer drohen bei jedem Windstoß zu stürzen. Vor uns u. gegenüber, im Norden u. Osten war blaugrauer Gewitterhimmel, gegen den grauweißlich das Ruinenbild der Stadt stand. Ein heftiger Gewitterwind brach los, alles war in Staub gehüllt, alles nahm eine fahle Farbe an, alles drohte. Das gab wahrhaftig einigermaßen die Vorstellung eines anbrechenden jüngsten Gerichtes. Und durch den Staub, den Schutt, das Lärmen des Sturms rasten immerfort die Cars der Amerikaner. Ihr Rasen brachte erst die entscheidende Culmination des Höllenbildes; sie sind die Engel des Gerichts oder die * Centauren am Blutstrom 1 oder etwas derartiges; u. sie sind die frohlockenden u. vergnügten Sieger u. Herren. Sie fahren eilig u. nonchalant, u. die Deutschen trotten demütig zu Fuß, sie spucken überallhin die

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