Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
Vom Netzwerk:
Dachauerstr. begann es zu tröpfeln; E. war ganz leicht gekleidet, ich ließ sie in einem Hausflur u. ging das lange Ende zu unserm Bäcker allein. Von dort nahm ich unsere Mäntel, einen Carton mit u ein Brod mit. (Vorher hatten wir uns noch eine Rast im Behelfsrestaurant – Cold Storage! 1 – am Stachus gehabt, einer Baracke, die unglaublich dünnen Ersatzkaffee in Gläsern ausschenkt, ebenso Tee u. Suppen, u. die ungemeinen Zulauf hat.) Der Rückweg wurde mir unsäglich schwer; nach zwei Minuten merkte ich, daß ich den schweren Karton nicht bis zum Spital bringen würde; mein Herz versagte, ich mußte alle paar Schritte absetzen absetzen. Endlich hatte ich den Hausflur erreicht: * E. öffnete den Carton, erleichterte ihn, übernahm einiges in ihre Handtasche, machte aus anderem ein sehr kunstvolles Sonderbündel. So mit verteilter Last habe ich dann den Rückweg bewältigt, aber unter sehr großer Anstrengung. Ich habe noch zwei Dinge nachzutragen: auf dem Wohlfahrtsamt hatte ich nach einem Flickschuster gefragt. Antwort, man wisse keinen, könne mir aber Anweisung auf ein Paar alte Militärstiefel schreiben – im zweiten Stock der Blumenschule. Dort oben lag altes Militärzeug, u. Dachauer Entlass xxxx ene kleideten sich ein; ich fand ein Paar harte überall drückende, aber feste u. zu große, nicht engende Soldatenschnürschuhe u. zog sie gleich an – am schwersten war es, ein Paar alte Senkel dafür zu finden. Die zerrissenen * Dressel schen Schuhe gehörten nun auch noch zum Gepäck .. Und zweitens ist noch der Eisladen neben dem Hausflur in der Dachauerstr zu nennen: da stand eine Riesenschlange, u. nachdem E. alles umgepackt hatte, stellte ich mich auch in die Schlange, u. wir leckten das Eis auf der Straße stehend. – Es hatte geheißen, vom Ostfriedhof bis zum Sendlinger Thor verkehre bereits die Trambahn, damit war es nichts. So trabten wir die ganze Strecke hin u. zurück. – Im Spital meldete ich mich bei der Oberin u. bat um Klärung der Verköstigungssache. Das Gespräch gestaltete sich so, daß ich als Protektor einerseits der Flüchtlinge, andrerseits des Spitals selber dastand. Ich suggerierte der Oberin ein Schreiben an die in Frage kommende Stelle, man solle ihr unbedingt Lebensmittel für die Flüchtlinge u. nur eine begrenzte Anzahl von Flüchtlingen zuweisen. Mit diesem Schreiben würde ich selber an den richtigen Mann zu komen suchen. –
    20 h . Heute Vormittag, am Donnerstag 24/5 also, nahmen wir wieder unsere unseligen Wege auf; im Polizeibureau an der Ecke der Disenhofer 1 u der Tegernseer Landstraße, in grausam verwüsteter Gegend – das Bureau selber in halbzerstörtem Haus durch Kreide Kreide-Anschrift bezeichnet, nur dem Eingeweihten auffindbar – meldete ich uns an: Schlafstelle Martinsspital. (Hier sah ich den Zug der heimkehrenden Polen, eine Kolonne von 60–70 Lastern, mit Blumen, Guirlanden, weißroten Fahnen geschmückt – ein Wagen trug an der Stirnseite richtig das polnische Wappen –, schwarze Soldaten chauffierten, die Insassen, Weiber mit bunten Kopftüchern, Männer in verschiedenster Kleidung, die blauweißen Streifen Leinenhosen u. -jacken der Dachauer darunter, ein Dachauer trug zur Sträflingskleidung einen Cylinder.) Danach wieder zum Rathaus u. nachher * E. auf in der Markenausgabe getroffen. Auf dem Rathaus kam die große Wendung: ich lief * Maron vor seinem Zimmer in die Arme; er war gar nicht verwundert über meine Erfolglosigkeit, er sagte im Punkte des Wohnens u. Essens, Kaulbachstr 65 sei bereits angewiesen, eine neue Stelle zu schaffen, die Simonschule. (Das Schreiben der Oberin schien ihm belanglos, er wollte es aber weitergeben.) Ich sagte: dann wollten wir zu Fuß weiter, wenn das möglich sei. Er sofort: Wenn Sie es wagen ! Ich: ob es möglich sei? Er: Warum nicht, ich hätte nichts zu riskieren, über 50 km. könne er mir einen Ausweis geben, aber es werde mich kaum jemand fragen, auch könne man ja um verdächtige Posten herumgehen. Er sprach, als sei die Sache leicht u. unbedenklich, er wünschte mir herzlich Glück u. schüttelte mir erleichtert die Hand. Darauf waren E. u. ich entschlossen, es zu wagen. (Aber eben sagt mir hier ein junger Mann, wir würden unweigerlich irgendwo angehalten u., falls ohne Ausweis, zurückgeschafft. Da bin ich nun wieder schwer bedenklich.) Wir aßen nun wieder in der Blumenschule; auf dem Platz vor ihr war ein großer Haufen deutscher Soldaten aufgestellt: Entlassene, von denen 145 gleich darauf zur

Weitere Kostenlose Bücher