Klemperer, Viktor
* Maron mit, der mich am Freitag auf dem Rathausplatz gesucht u. entweder verfehlt oder nicht mehr angetroffen habe. Am Donnerstag also 2 sollte ich ohne weiteres zu ihm vordringen können. Das gelang auch, man ließ mich passieren, oben in den endlosen gothischen Gängen wies mir ein Posten das Zimer 195, Dr Maron, fraglos RA 3 , Mitte 50, nahm sich geradezu herzlich meiner an. Sein Dienstzimer war überfüllt. Ich möchte als privat draussen warten – nach wenigen Minuten war er bei mir, war er im Bilde. Nebenan ein Zimmer: Captain * Sheldon Fine Arts, Religion, Education – (bei Maron: Finance), der müsse helfen. Maron sprach für mich, halbwegiges von mir beneidetes Englisch. Der Captain, elegant, jugendlich, dunkelhaarig, smiling, schüttelte mir die Hand u. schickte uns weiter. Maron ließ sein Dienstzimmer im Stich – es muß Ihnen doch geholfen werden! – wir gingen in ein Haus dem Rathaus gegenüber Verkehrspolizei für Deportierte u. Ausländer. In einem wüsten Teil des Hauses wurde repariert, in einem erhaltenen waren Bureauräume eingerichtet. Eine Menge Ausländer, das Personal vielsprachig. Eine Dame: englisch, fremdartiges aber gutes Deutsch, sprudelndes Slavisch. Eine deutsche Dolmetscherin. Ein Offizier, jung aber mit großer Glatze, fließend deutsch, fließend englisch, fließend französisch. An ihn geriet ich sehr bald, er führte mich in einen Sonderraum, war rasch im Bilde u. wurde ungemein höflich, ja herzlich u. persönlich aus sich herausgehend. Offenbar, sicherlich war er selber süddeutscher Jude (gell?), der in Deutschland Angehörige verloren hatte. Er deutete es an, er sagte auch: Unsere höheren Stellen sprechen gern u. entrüstet von den Nazigreueln den Juden gegenüber, aber sie tun leider nicht genug für die Überlebenden. Mit alledem stand er meinem Fall ratlos gegenüber. Er war eben doch subaltern u. starr an einige Vorschriften gebunden. Ich sei ja Jude, aber doch deutscher Staatsangehöriger. Und meine Frau sei Christin u. Deutsche. Und eine Civilperson dürfe nicht im Wagen weiterbefördert werden. Und ich sollte auf den Bürgermeister einen Druck ausüben, daß er mich hier beschäftige, das sei Sache der deutschen Verwaltung. – Der Mann verstand also meinen Fall doch nicht, ich richtete bei all seiner Herzlichkeit nichts aus, gar nichts. – Nun war aber eine neue Complication eingetreten, u. auch aus ihr half mir der Mann nicht heraus. Ich sagte ihm: wir hungern! Das Martinsspital kann oder will uns nicht mehr beköstigen, in der Stadt ist kein Restaurant offen – was tun? Er: das müsse geklärt werden. Sein erster Vorschlag: gehen Sie in ein Camp für politische Gefangene! Dann: nein das sei nicht schön, er werde den Fall selber klären. Ich sah ihn herumwandern, telephonieren, er kam zurück u. brachte die bekannte Leier: wenn nicht Kaulbachstr 65, dann Wohlfahrtsamt Reisingerstr. Ich ging geradezu gebrochen fort u. traf mich mit * E., die inzwischen ebenso erfolglos nach weiteren Lebensmittelmarken in der nahen Sparkassenstr geforscht hatte. Wir erfuhren, daß die Reisingerstr in der Nähe des Sendlinger Tors u. daß unmittelbar am Sendl. Tor die Blumenschule gelegen sei, die uns gleich anfangs als Ess- u. Wohngelegenheit offeriert worden war. Wir hatten bisher ganz ähnlich wie am ersten Freitag nur eine Tasse Suppe der nahen Imbißhalle im Magen. Wir gingen zum Sendlinger Tor. Dicht neben dem beschädigten Tor inmitten grausamster Zerstörung ist diese Schule merkwürdig gut erhalten. Aber es ist ein düsteres stinkendes Haus, eher ein vernachlässigtes Gefängnis als eine verkommene Kaserne. Der Essraum eine allerdüsterste Spelunke mit fragwürdigen Tischen u. Bänken. Es hieß dort: Sie müssen Speisekarten der Reisinger Str. beibringen. Ich ließ Eva in der Spelunke u. ging zum Wohlfahrtsamt. Zwei Sekretärinnen u. an einem Tisch für sich, den Unterkörper unsichtbar, erschreckend puppenhaft mit Händchen wie ein zweijähriges Kind[,] ein Zwerg, aber ohne die Runzeln sonstiger Zwerggesichter, glatt, intelligent aus dunklen winzigen Augen blickend, sehr elegant gekleidet, sehr würdig u. sorgfältig hochdeutsch sprechend. Eigentlich sei nur die Kaulbachstr zuständig, u. ohne deren Anweisung dürfe man mir nicht ..., aber eine Ausnahme sei doch zulässig, u. also erhielt ich 2 x 2 Mittagszettel. Wir bekamen daraufhin einen tiefen Teller dicker Suppe, in der sogar Fleischbröckchen schwamen .. Weiter nach Erzgießereistr. Gleich am Eingang der
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