Klemperer, Viktor
Erinnerung nach begann hinter der Kultur- und Parkzone des eigentlichen engl. Gartens die freiere Natur des Aumeisterstücks; darauf wartete ich. Stattdessen kamen irgendwelche Gleise, Fahrbahnen und häuserbesetzte Strassen, ein neuer, gar nicht mehr ganz neuer Stadtteil: wir waren rund dreissig Jahre nicht hier gewesen. Wir gingen also die Hauptlinie einer unbekannten u unpersönlichen Vorstadt entlang, Gott weiss, was mit dem Aumeister geworden. Eine Trambahn kam, brachte uns aber nur wenige hundert Meter vorwärts. Wir gingen auf Freimann zu weiter, so wie früher der Autobus gefahren war. Nichts mehr von verstreuten dörflichen Anwesen, vielmehr Häuser und Industrie, natürlich vielfach in Ruinen oder doch angeschlagen. Dann war der Ort zuende, die Landstrasse machte eine Biegung ins Freie hinaus. Gerade an dieser Stelle stand dicht bei der Strasse eine grosse Esche im Wiesengelände. Es begann ein wenig zu regnen, wir lagerten im Schutz des Baumes und begannen Brod und Ei auszupacken. Ein paar Schritte von uns entfernt liess sich eine kleine Wandergruppe nieder. Indem kam puffend ein Bulldog mit leerem Anhänger gerasselt, die Leute neben uns, Heimkehrer, auch Mädchen dabei, liefen auf ihn zu, hielten ihn an und begannen hinaufzuklettern. Da raffte * E unser Zeug zusammen, und gleich darauf sassen wir auch auf dem Wagen. Es ging ein wenig weiter, dann sperrte eine Controllwache die Ausfahrt aus Grossmünchen. Erste kritische Situation. Have you päss? Yes [S]ir, a jewish pass. Der Posten gab sich mit der Kennkarte zufrieden, u meine Hoffnung auf Erfolg wuchs. Der Wagen brachte uns etwa 5 km. weiter, bis Garching. Dort, auf der Strasse hockend, machten wir mit der Soldaten- u Mädelgruppe einen Tausch, der E. beglückte: wir bekamen 20 italienische Zigaretten für einen Kanten Brod. (Das Stummelsammeln hat deshalb doch nicht aufgehört). Keine zehn Schritte Wanderung, da kam ein Bauernwagen, das Pferd trabte langsam, aber doch schneller als wir. Es brachte uns ca 4 km. weiter, bis Dietersheim. Von da an sind wir an diesem ersten Tag wirklich zu Fuss gewandert, von einem ganz kleinen Stück abgesehen, das wir auf einer Egge durchfuhren, und an den nächsten Tagen wurden die Fahrgelegenheiten viel seltener. Das Land lag vollkommen flach, nichts als Wiese und Feld, nur in der Ferne westlich gab es einen Hügelzug, und erst in der Nähe Freisings einige Auwaldstreifen. Oft sah man Kampfreste, und das gilt mehr od minder für die ganze Strecke München–Dresden: verbogene, ausgebrannte, irgendwie gescheiterte Automobile, Panzer, Mg s, Lagerfeuerasche, verstreute Munition, zersplitterte Bäume, halb od. ganz zerstörte Gehöfte, tiefe Furchen od. Wegbruch eines Teils der Strassendecke[.] Überall, & auch das hat einigermaßen Allgemeingeltung, ist grosses Leben auf der Landstrasse. Die Amerikaner fahren & fahren, in welcher Fülle u. verschwenderischen Üppigkeit, das wird mir erst am Gegensatz der Russenzone ganz deutlich werden; zu ihren Militär- & Materialtransporten kommen die Camions, in denen ausländische Arbeiter & deutsche Soldaten fortgeschafft werden. Die deutschen Soldaten werden wohl erst in ein Lager od eine Sammelstelle gebracht, ihr Pass muss registriert sein, ehe sie wirklich heimdürfen (u. SS bleibt gefangen.) Dazu immer-immerfort die Menge der Wander[er]. Die meisten Heimkehrer mit schon erhaltenem amerik. Ausweis. Soldaten in halbem & viertel Civil, mit Tornistern u Rucksäcken, mit Packeten, mit Handwagen, in denen gleich eine Gruppe gemeinsam ihr Zeug rollt, oft bei ihnen Wehrmachthelferinnen. Ausser den Soldaten, nicht immer sofort von ihnen unterscheidbar, die Entlassenen der Kzlager u. Zuchthäuser. Manchmal noch ganz in den weissblauen Leinenanzügen manchmal mit Sträflingshosen od Jacken, oft schon ganz in einem wüsten u zusammengestückelten Civil. (Auf einem Flüchtlingsauto sah ich einen Dachauer noch ganz in Weissblau aber mit einem Cylinder auf dem Kopf.) Auf der Egge sass ich zusammen mit einem biederen Bayrischen Handwerker in beinahe anständigem Civil. Er kam aus Stadelheim, 1 als Politischer vor den Criminellen entlassen. Auslandfunk gehört die Sauhunde, aber jetzt!! Täglich abgehackte Köpfe, später Hungersterben, Absicht, alle hinzumachen ... wenn die Amerikaner nur eine kleine Weile später kamen, dann wären wir alle hin .. Solche Erzählungen habe ich in vielen Varianten aus verschiedenen Lagern oft gehört ..
Als wir von der Egge stiegen, gerade vor dem
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