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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Dorfgasthaus von Achering, begann heftiger Gewitterregen, u das Wirtshaus füllte sich schnell. Es gab nichts als einen schauerlichen Pfefferminztee, den alle Welt mit komischen u. resignierten Bemerkungen trank. Um Halbsieben erst konnten wir weiter. Das Wetter war ja jetzt sehr schön, die Landschaft, die Beleuchtung auch, bedrohlich wirkte nur die Sperrstunde 21 h. Das Grenzschild Unmittelbare Stadt Freising erreichten wir zu guter Zeit – (Wieso unmittelbar? Tradition? Dann müsste es doch wohl Reichsunmittelbar heissen. LTI??) – dann aber dehnte sich kilometerlang erst leerer Raum, danach ein total zerstörtes Bahnhofsviertel. Ich geriet immer mehr in Gehetzheit, und diese aufreibende Abendhetze, die wir fortan unter allen Umständen [vermeiden]wollten, hat uns in teuflischer Weise trotz aller Planung und Vorsicht auch die folgenden Abende verstört. Es war schon halbneun, als ich das deutsche Polizeibureau auf dem centralen Marienplatz fand und um Unterkunft bat. Zwei gemütliche Civilisten mit Armbinde berieten, schickten uns mit Empfehlung in zwei Hotels, beide lehnten ab: von den Amerikanern beschlagnahmt – um neun standen wir wieder im Polizeibureau: behalten Sie uns hier, sonst verhaften uns die Amerikaner! Darauf ging der eine der Beamten mit uns. Er führte uns in ein Haus dicht am Marktplatz, eine Treppe hinauf, man sah allerhand Bombenschaden, in einen grossen Raum, offenbar ein Massenquartier für Soldaten, Bettschragen übereinander längs den Wänden, Waschtisch, Zimmertisch. Alles schien in Gebrauch: in der Was[ch]schüssel stand gebrauchtes Wasser, auf dem Tisch lagen Essreste, zwei zerbrochene Cigarren, mehrere Messer, ein Löffel, eine Gabel, Rasierpinsel, an denen noch Seife hing, am Garderobenbrett hingen Gasmaske und Brodbeutel. Der Polizeimann sagte, die Leute seien weg, wir sollten es uns bequem machen, unten sei die Wirtschaft, auf dem Corridor Wasserleitung und Clo, womit er sich empfahl. Die Wirtschaft unten war zu, kein Mensch zu sehen. Wir standen hilflos und verdurstet auf dem Hof, von dem aus grosse Verwüstung anliegender Gebäudeteile sichtbar war. Ein junger Mann öffnete ein Parterrefenster, ich hielt ihn für den Wirt. Er meinte mitleidig, vor acht Uhr Morgens werde es im Lokal sicher nichts geben, mit einer Flasche Bier und einem Seidel aber helfe er gern aus. Wir nahmen das durchs Fenster dankend an, hielten dann in unserer Behausung ein sehr vergnügtes Abendmahl aus eigenen Beständen, wickelten uns völlig in unsere Mäntel und schliefen ausgezeichnet auf dem gebrauchten Bettzeug des Oberstocks.
    Dies war der erste Tramptag, Samstag 26. Mai, Strecke München[–]Freysing, 36 km.
     

 
    Am Sonntag bei strahlendem Wetter vor sechs wach, frisch und zuversichtlich. Die ganzen ersten Tage waren wir ja immer in Gefahr angehalten und zurückbefördert zu werden, irgendwer hatte uns den Floh ins Ohr gesetzt: Ehe ihr nicht über die Donau bei Regensburg seid, müsst [i]hr mit Rückschub rechnen! Und einer der Gefahrtage, und die nächste Nähe Münchens waren ja nun glücklich überstanden, auch hatten wir statt des in Rechnung gestellten Marschtempos von täglich 20 Km.: 36 hinter uns gebracht. Wir waren rasch u. ungewaschen fertig, wir nahmen von dem Soldatenerbe mit, was wir gebrauchen konnten: ein Glas, die Bestecksachen, ein Taschenmesser (die Sachen haben uns unendliche Dienste geleistet), einen Brodbeutel. Das Lokal war geschlossen, aber der hilfreiche junge Mann von gestern stand wieder am Hoffenster. Ich reichte ihm sein Seidel hinein und wollte zahlen: er war gar nicht der Wirt und nahm für das Bier kein Geld, er wünschte uns gute Reise und riet uns zu einem Morgenmarsch bis Marzling, denn vorher würden wir doch keine Wirtschaft offen finden. Es war ein wunderschöner Frühgang in Ostrichtung. Erst langgestreckte Vorstadt (Firmlinge mit ihren weissen Kleidern und Kerzen), dann aufsteigend hohen Laubwald zur Linken, tiefe Wiesenweite zur Rechten, die von fernen Wald begrenzt, im Rücken die Domtürme. Es wurde aber warm, wir waren nüchtern, und kamen recht müde nach mehre[re]n Stunden in das Dorf. Ein gutes Frühstück brachte uns bald wieder auf die Beine, aber dann hatte * E. – allgemeine Erschöpfung oder allzu giftige italienische Cigarette, vor der sie schon gewarnt worden, und die sie von nun an nur in vorsichtiger Mischung rauchte – einen richtigen Schwächeanfall, und wir blieben bis gegen elf Uhr. Es war E.s Plan, westlich an Landshut vorbei,

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