Klemperer, Viktor
unmittelbarer nördlich auf Regensburg vorzustossen, einmal, um ein paar Km. zu sparen, sodann auch um besser an etwaigen Controllen und Sperren vorbeizukommen. ([O]b diese Besorgnis[,] zurückgeschickt zu werden, zutreffend oder nicht gewesen ist, wird sich nie feststellen lassen, da ja jede Machtparzelle der Amerikaner nach eigenem Ermessen handelte.) Alle geographischen Absichten aber konnten wir nur sehr unvollkommen realisieren, da wir nur selten, nur auf Augenblicke, nur zufällig und nie im entscheidenden Augenblick Karten zu sehen bekamen, und auch dann meist nur undetaillierte Ka[r]ten. Und Wegweiser stehen fast immer nur dort wo sie überflüssig sind ... Der weitere Verlauf des Tages war bei grosser Hitze sehr anstrengend, zu Rucksack und Handtasche trat jetzt das Überdemarmtragen des Mantels, und die überschweren u. faltenharten uralten Militärstiefel machten sich immer quälerischer bemerkbar. Etwa 5 km unbarmherzig reiz- und schattenloser Landstraße – das Fehlen der Chausseebäume ist ein böses weitverbreitetes Charakteristikum Oberbayerns, irgend wie verwandt dem Fehlen der Balkons in München – wirkten stark deprimierend. Beim Mantel fällt mir noch ein: tags zuvor, als ich ihn noch anhatte, war er mit dem Leuchtknopf des vorigen Winters versehen. Zwei Radler kamen uns entgegen, und einer rief lachend: Der trägt noch den Parteiknopf! .. Im Dorf Langenbach bekamen wir, zwar nur auf Bitte, aber doch ein richtiges und ausreichendes warmes Mittagbrod, und das ermutigte uns nicht nur physisch, sondern auch seelisch, denn wir entnahmen daraus, daß der eigentliche Hungerbezirk der Hauptstadt durchschritten war. Aber die Erfrischung hielt nicht lange an. Die Hitze war zu gross. In einem Waldstreifen wurde Rast gemacht, aber wir mussten doch weiter, und die Hitze war nicht geringer geworden. Vorderhand hatten wir Richtung auf Landshut zu. Die Landschaft war hübsch, wog aber die Strapaze auf die Dauer nicht auf, sie war sozusagen oberbayrisch schlechthin, etwa wie bei Unterbernbach um Haslangkreit herum. Die passierten Dörfer hiessen Imkofen, 1 Kirchamper, Ambach. Hier standen wir um 17 h, sehr verdurstet, und hier bekamen wir jeder eine richtige halbe Maß im Wirtshaus – seltene und fast Freundschaftsgabe, viel schwerer zu erhalten als Milch. Irgendwo hatte * E eine genaue Karte gesehen, aus der hervorging, dass wir uns beim Dorfe Thalbach, dicht bei Moosburg, zwischen Landshut und nördlichem Abschwenken zu entscheiden hatte[n]. Wir nahmen uns vor, dort den Lehrer zu besuchen und um Rat und Karteneinblick zu bitten. Das Wandern ging in Marschieren, in schweigende Energietätigkeit über, man marschierte allmählich mehr mit zusammengebissenen Zähnen als mit den Füssen. Das Dorf Feldkirch, dann wohl eine kleine Häusergruppe, rechts lag weiss und städtisch ausgedehnt der Ort Moosburg, über den der Weg sicher nach Landshut führte – von Thalbach war nichts zu sehen, und ein paar Vorbeikommende wussten nichts von Thalbach. (Es stellte sich später heraus, dass wir an diesem Nest schon vorbeigekommen waren) Stattdessen tauchte ein Strassenschild auf, dem zufolge 8 km. nördlich Gammels hausen dorf lag. Erreichten wir G., so waren wir bestimmt dem Ziel Regensburg nähergerückt, als wenn wir auf Landshut zu abbogen. Andrerseits war es schon 19 h, in zwei Stunden spätestens also mussten wir unter Dach sein, bei unserer Ermüdung war mit grosser Geschwindigkeit nicht mehr zu rechnen, und zur Quartiersuche selber – wir wollten jeweils am liebsten mit dem Pfarrer sprechen – war auch ein Zeitraum nötig. Aber vielleicht gab es auf der langen Strecke ein kleines Zwischennest. Oder vielleicht einen Wagen. Wir wanderten verbissen weiter. Mein Stichwortblatt bezeichnet die Gegend als thüringisch. Vor Augen steht mir nur, wie Moosburg, so oft ich mich umdrehe, weisser, kompakter, stattlicher und städtischer herauskommt. Steigend[e] Erschöpfung, der Weg dehnt sich, kein Wagen taucht auf (vielleicht des Sonntags halber, aber soviel Glück in Punkto Wagen wie am ersten Tage haben wir überhaupt nicht wieder gehabt). Endlich ein Zwei Einspänner, zwei ganz junge Menschen, fast Kinder darauf, Bruder und Schwester. Sie nehmen uns bei grösster Enge in dem winzigen Gefährt auf, sie haben nur für 1500 m. den gleichen Weg, aber danach soll es nicht mehr weit sein, und wir ruhen ja eben aus. Aber das Ausruhen hat nicht vorgehalten, und es ist spät geworden und der Weg dehnt sich endlos, und immer
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