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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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sofort umquartieren kann? Und wie wird das neue Münchner Quartier ausfallen? Und wie halte ich es mit der Polizei, bei der ich mich gestern angemeldet habe? Melde ich mich ab oder nicht? ... Wir sind vollkomen deroutiert. Und wirklich: nichts stimt. Gesern hat das Kartenamt unsere Aichacher Marken in Urlaubermarken für diese Woche umgetauscht. Heute ist auf diese Urlaubermarken hier nichts zu haben. Münchener Marken hätten den Vorrang. Übermorgen aber sollen diese Urlaubermarken ohne Gültigkeit sein. Hier wenigstens . Vielleicht gelten sie im Lande? Niemand weiß etwas Genaues. –
    * E. schläft eben im Garten (im Pelz u. auf meinem Mantel, denn es ist sehr kalt); wenn sie aufwacht, müssen wir, wir müssen eine Entscheidung treffen. Mariez-vous donc! * Ne mariez-vous donc pas! 1
    Nachträge . Ich finde eben den verschmierten Text des stolzen Briefes, den ich am 17. 5. an den * Bürgermeister in Unterbernbach schrieb: Das Militärgouvernement in Aichach hat heute verfügt, daß wir schon morgen den Rückweg über München antreten können. Erlauben Sie mir bitte, Ihnen durch diese Zeilen unsern wärmsten Dank für alle uns erwiesene Hilfe u. Freundlichkeit auszusprechen. So groß u. geschwoin 2 war ich damals .. Und jetzt!
    Zum * Labruyère: einmal sprachen wir auf einer Bank vorm Ostfriedhof zwei Luftwaffenhelferinnen, ganz offenbare BdM s. Sie erzählten erfreut von dreitägiger Kriegsgefangenschaft bei den Amerikanern. So gut verpflegt, Süßigkeiten, usw. – Gestern im Behelfsrestaurant am Stachus saßen zwei ausgehungerte Flakhelferinnen. Sie aßen ein ganz frisches Brod zu ihrem Kaffee zusamen, sie seien tagelang ohne Verpflegung gewandert ... Auf der Straße hörte E. einer Gruppe uniformierter Mädel zu; sie wollten auf Rädern zu ihren Angehörigen weiter. – – Alles ist Chaos u. Brei, jeder komt durch oder nicht durch, hungert oder wird satt, wie es das Glück bringt. Chaos auf deutscher Seite, Chaos in der Militärregierung. Und wir zwei beiden genau so hilflos u. namenlos u. umherirrend wie Millionen anderer. * Der Schädel schreit: ich war Ambassadeur! 3
     

 
    Samstag früh ½ 7 Speiseraum. Martinsspital (Altersheim Giesing) München 26/5.
     
    Gestern Nachmittag noch einmal in città, 4 in einer Bude nach langem Schlangestehen Käse erobert – Gültigkeit, Annahme unserer Marken so quallenhaft unbestimmt wie alles, der eine acceptiert, der andere weist zurück: Urlauber nach Indigènes 5 oder Aichacher nein , oder anstandslos beide etc. etc. –, Kaffeemahlzeit an der Stachusbaracke, die mit ihrer Lurke für 20 Pf. das Glas ungemeine Geschäfte macht. Zurück in tiefer Müdigkeit, obschon wir doch nun die Tram haben – aber die Müdigkeit u. völlige Zerschlagenheit geht für uns von München aus. Dieser Albdruck aus Vernichtung, Staub, rasenden Cars der Amerikaner, aus Mangel an allem u. vor allem aus absoluter Ungewißheit, Unzuverlässigkeit, Qualligkeit – dieser in buchstäblichem u. metaphorischem Sinn fürchterliche Gallert aus Schutt, Geröll u. Staub.
    Wir sind polizeilich abgemeldet: Wegzug von Schlafstelle im Altersheim Giesing nach Falkenstein i/Vogtland Hauptstr 5b . Wir müssen hier fort, ich habe es der Oberin gesagt, daß wir heute fortgehen, ich habe mich als der Wohltäter des Spitals, als der Einflußreiche drapiert, dafür hat sie uns heimliche Eßzuschüsse bringen lassen (auch gestern Abend noch Brod u. Butter nach der Suppe – heimlich auf den Gang hinaus), dafür hat sie meine Pirnaer Schuhe mustergültig u. durchgreifend reparieren lassen, dafür bewahrt sie uns einen Carton mit Sachen auf Abruf – disjecta membra 1 : ein Teil hier[,] ein Teil beim braven Bäcker: ich kann nach alledem nicht bleiben, zumal das Versagen meiner Hilfe ja bald genug deutlich offenbar werden muß, denn ich glaube nicht, daß * Maron die Erklärung! des Spitals überhaupt nur weitergegeben hat, u. der Inspector sagte mir, heute sei auf dem Rathaus eine Sitzung, in der man über Zuteilungen an das Altersheim reden wolle.
    * E. hat frü gestern Abend alle Gepäcksachen geordnet, sie hat sich heute um 4 h Nachts im Waschraum abgeklatscht u. schläft jetzt noch; ich werde dreckig auf die Fahrt gehen. Sehr viel anders als am 3. April ist mir nicht zumute. Unser Fluchtversuch hat fraglos weniger Aussicht auf Gelingen als der damalige. Nur steht auf Scheitern nicht wie damals der Tod. Dafür aber schwere Lächerlichkeit u. Demütigung. Kommen wir nicht durch, so muß ich mich an die

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