Klemperer, Viktor
Kaulbachstr wenden, u. das wird sehr bitter. Aber wir haben hin u. her erwogen, u. das Resultat war immer das gleiche: Strapazen u. Enttäuschungen bringt uns die Flucht bestimmt, aber der Aufenthalt in München ebenso bestimmt. Wir kamen beide zu dem gleichen Ergebnis: müssen wir aus Nahrungsmangel umkehren oder schicken uns die Amerikaner zurück, dann sind wir wenigstens eine Weile außerhalb Münchens gewesen.
Im Übrigen ist das Unternehmen natürlich ein fast irrsinniges: ohne ordentliche Wanderausrüstung, ohne Gewißheit der Lebensmittelkarten, des Quartiers drei-[,]vierhundert Kilometer zurücklegen zu wollen .. Vielleicht aber hilft uns gerade unser (den Amerikanern unverdächtiges) Alter, vielleicht helfen wir uns von Pfarrer zu Pfarrer durch. – Ich will jetzt nach dem Frühstück dem hiesigen Curatus die geliehenen Bücher zurückgeben, ich will der Oberin danken u. ihr einen 5 M-Schein für die Armenbüchse geben, u. dann also – so oder so! sagte * Hitler – in eine neue Phase. Schlimmeres als in irgendeinem andern Massenquartier Münchens zu landen, kann uns kaum geschehen. Ich will mir nicht vorwerfen müssen, irgendetwas unversucht gelassen zu haben.
Kleine Nachträge : Ein Raum hier trägt die gemalte Aufschrift Schänke [.]. Da hängt ein Schild: Heute kein Bierausschank. Das gleiche Schild sieht man an den Brauereien der Stadt. Aber von Zeit zu Zeit gibt es da u. dort etwas. Wir sahen einmal vom Franziskaner her eine große Anzahl Leute mit gefüllten Seideln behutsam komen, ein beinahe rührend komisches Bild. –
Ich sehe zu wenig, u. ich sehe falsch: am Rathaus hängt die große amer. Fahne nicht zwischen den kleineren engl. u. franz. Fahnen, sondern an ihrer Seite, links vom Beschauer; den Zugang zum Gärtchen der Oberin habe ich auch nur halbwegs richtig wiedergegeben. Kleinigkeiten – aber Beweise meiner absoluten Unzulänglichkeit im Schildern. – Vorhin war ich in einer der größten Versuchungen meines Lebens (wahrhaftig!): ich war ganz allein im Waschraum, u. dort hatte jemand sein handliches Klappmesser liegen lassen. Wenn ich bedenke, wie sehr * E. den Verlust unseres Taschenmessers seit Klotzsche immer wieder bedauert! Nur aus Angst, nicht aus sittlicher Hemmung kam ich am Diebstahl vorbei, u. ein bißchen bereue ich dies Vorbeikomen beinahe. Übrigens haben wir neulich auf dem Platz vor dem Spital ein zwar nicht Klapp = aber sehr brauchbares Messer, ein besseres als das den Falkensteinern entliehene, gefunden. (Und bei Unterbernbach fand ich eine kleine Schere!) – –
– Gestern am Stachus sahen wir mehrere Laster mit deutschen Soldaten. Wurden sie in ein provisorisches Lager gebracht? Ich weiß es nicht. Jedenfalls schienen sie kaum weniger vergnügt – das war ganz deutlich – als die abtransportierten Ausländer. Und diese Vergnüglichkeit beobachte ich auch an den vielen einzelnen Heimkehrern auf der Straße u. im Stachuslokal. Nichts von Trauer über den verlorenen Krieg etc. Nur , aber auch nur beglücktes Aufathmen. Dies gehört zu meinem Auftrag, dies, nicht das Schildern.
Und als Karikatur, aber wahre, dazu das politische Colleg gestern Abend im Garten auf der Bank neben uns: ein stocktauber verblödeter Greis u. eine sehr alte politisch interessierte Frau. Sie brüllte ihm Kenntnisse ein: Und die-Leute .. Wos? ... Gemordet haben s .. Güterwägen voll Leichen habens herausgeschafft .. Wos? ... Güterwägen .. Güterwägen voll Leichen .. Die Amerikaner haben gemordet? ... Na, die... Wos? ... Güterwägen voll Leichen, die.. Ja warum habens gemordet? Ich dachte die Amerikaner ...
Rückreise Unterbernbach–Dresden
26. Mai–10. Juni, 0,30 1945.
Am Sonnabend d. 26. Mai nach dem Frühstück nahmen wir von der Oberin des Martinspitals Abschied; zu meiner Beschämung dankte sie mir, sie fühle bereits die wohltätige Wirkung meines Eingreifens, denn es kämen jetzt keine Flüchtlinge mehr zu ihr. Ich tat, als wäre wirklich ich der Urheber dieses Stops.
Wir begannen unsern Marsch durch München gegen zehn Uhr; die Isaranlagen und der englisch[e] Garten – manche Trichter, aber doch friedliches staubloses Grün, gefielen mir sehr, wie ich denn dieses Mal München in all seiner Trostlosigkeit als mächtige Prunkstadt vieler Jahrhunderte hoch über das zierliche Rokoko-kästchen Dresden stellte. Der Kleinhesseloher Teich lag trocken. Alles war sehr einsam und still, man wurde nur selten und stellenweise gar nicht an die Zerstörung erinnert. Meiner
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