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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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bei sehr schwerer Hitze wanderten wir weiter, langsam bis zum ersten Waldstreifen, wo wir fast eine Stunde ruhten. Es half nichts, wir blieben müde, mich quälten die Füsse, die hübsche Landschaft – immer wieder Varianten um Unterbernbach, etwas gebirgiger, thüringischer, im ganzen aber doch oberbayrisch, obwohl wir uns bereits in der Provinz Niederbayern befanden – kam gegen die Hitze und die grausamen Stiefel nicht auf, eine Tasse Buttermilch in Obermünchen, selbst die allerdings anspannende Ruhepause auf einem wild von Ungarn kutschierten vollgestopften Heuwagen halfen nicht über Depression hinweg. Immerhin schafften wir eine Strecke von 15 km., davon gut und gern 12 zu Fuss. Unterwegs geriet ich mit dem ständigen Wievieluhrfragen das erste (nicht letzte) Mal an einen polnischen Arbeiter, der mir, ohne deutsch zu können, die erplünderte goldene Damenarmbanduhr hinhielt. Wir erreichten mühselig, aber diesmal nicht gar so spät Pf[e]ffenhausen, einen Marktflecken wie Inchenhofen.
    Ich wandte mich wieder an den Pfarrer und traf ihn auch. Ein ältlicher Mann, pfeiferauchend, dem Anschein nach ungeistiger, bäurischer als * Moll in Unterbernbach. Seine erste Gegenfrage, warum ich nicht ein Dorf gewählt hätte, hier im Marktflecken sei alles so voll. Aber er setzte gleich hinzu, es werde sich Rat schaffen lassen, liess uns stehen und ging, so wie er war, über die Straße in ein Gehöft. Nach einer ganz kleinen Weile kam er zurück, es stimme schon, er bringe uns gleich zu guten Leuten. Unterwegs erzählte ich ihm unsere Absicht, in Regensburg * Dr. Ritter aufzusuchen. Sofort: Den Dr. Ritter vom Krankenhaus? Der hat mich auch schon unterm Messer gehabt ... Es hiess ja, die SS habe ihn gekenkt, aber dann ist das widerrufen worden. Da wusste ich at once, dass Ritter lebte, noch seinen alten Posten bekleidete und zuhaus war .. Der Pfarrer verabschiedete sich eilig, wir sahen ihn nicht wieder. Die Bauernfamilie und das Bauernhaus, dem wir übergeben worden, waren unvorstellbar dreckig, bühnenmässig, * Nestroymässig, 1 die Frau phantastisch zerlumpt, der Mann an die Armenhäusler erinnernd, die in Landsberg a/W die Strassen kehrten, die unendlich geschwätzige Tochter wenig besser gekleidet als die Mutter, alle zusammengedrängt in einer kleinen und schmutzstarrenden Küche. Wir wurden aber freundlich aufgenommen und einigermaßen beköstigt, u. die Unterhaltung war insofern interessant, als auf das dritte Reich geschimpft (Mit dem * Hitler sein wir reingefallen!), von den Amerikanern aber auch nichts Gutes ausgesagt wurde, sie plünderten zuviel, hiess es wiederholt. Als wir aus der stickigen u stinkenden Küche zum Schlafen geführt wurden, ergab es sich, dass die Leute ihre eigenes Ehezimmer uns überlassen hatten, und dass dies Ehezimmer ungleich wohlhabender ausgestattet war, als wir nach Küche und Kleidung der Leute hätten vermuten können. Über dem breiten Bett hing eine heilige Familie als Reliefbild, es gab allerhand gestapeltes Kinderspielzeug, einen Kasten mit einem Strandbild, Nippes. Es gab auch einen richtigen Nachtstuhl, ein Prunkmöbel. Aber erwartet wurde, dass man einfach in den ans Haus gebauten Stall ging.
    Von diesem Tag trage ich noch das später oft wiederholte Gefühl des Wartens auf einen Wagen nach. Man unterscheidet die Geräusche. Die raschen und schmetternden amerikanischen Autos u Autokolonnen kommen nicht in Frage, auch die von den Amerikanern gestellten Transportautos für Militärheimkehrer nicht. Ein Trekker bietet bessere Aussicht, aber manchmal führt er Mist. Am sichersten sind die Pferdefuhrwerke – aber plötzlich biegen sie, zehn Schritt ehe sie unsere Lagerstelle an der Straße erreichen, ins Feld ab. Es gibt auch die Enttäuschung geführter Pferde ohne Wagen. Und dann gibt es noch Ochsenwagen, sie sind nicht viel langsamer als Pferdewagen, aber sie fahren meist nur sehr kurze Strecken. Ich weiss nicht, warum es uns später nicht so oft wie am ersten Tage glückte, einen Wagen zu erwischen – vielleicht weil wir dann seltener auf Hauptstrassen wanderten? Aber das Pferdefuhrwerk sucht doch auch lieber die Neben- als die Auto- u. Hauptstrasse. (Wir vermissten die Hauptstrassen nur[,] weil es auf ihnen mehr Stummel zu sammeln gab – die üppigen Amerikaner rauchen wie die Schlote und werfen oft halbe Cigaretten weg .. Die Russen sind weniger reich, rauchen Mundstückcigaretten und werfen nur das Mundstück fort.)
    Dies der dritte Tag mit seinem geringen Ergebnis:

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