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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Gammelsdorf–Pf[e]ffenhausen, Montag 28. Mai.
     

 
    Für den nächsten Tag war uns Hoffnung auf ein Milchauto gemacht worden, sie ging in Erfüllung aber nur recht unvollkommen. Die Bäuerin, bei Tag u auf der Strasse noch dreckiger, zerlumpter und * Nestroyischer als am Abend (übrigens für eine geringe Bezahlung sehr dankbar) führte uns zur Molkerei, wo es ganz ähnlich zuging wie in Aichach, nur dass sich hier die Fahrer erst flehentlich bitten liessen, einen Gast mitzunehmen. Und dann mussten wir von 8–¼ neun 2 bei steigender Sonnenglut an der Rampe warten, ehe das Aus- und Einladen beendigt war, und als wir endlich hoch und eng auf Butterkisten über Milchkannen ins Kühlere fuhren, wurden wir schon nach 6 km wieder abgesetzt – es hatte sich kaum gelohnt. Der Ort hiess glaube ich Gisselsdorf. 3 Hier begann unser Wandern, bei mörderischer Hitze brauchten wir für die etwa 15 km bis Lan[g]quaid ganze ganze sieben Stunden. Ausser der Hitze quälte diesmal der Hunger, alle Bemühungen um eine ordentliche Mahlzeit im Gasthaus oder beim Bauern scheiterten, Geld schien wertlos. In einem Gasthaus gab man uns mürrisch einen Teller Suppe, einen für beide zusammen, und lehnte dann mürrisch die Bezahlung ab, in einem andern Wirtshaus kratzte man jedem von uns ein winziges Tellerchen Kartoffelsalat zusammen, in Bauernhäusern trieben wir für einen Groschen oder umsonst eine Tasse Milch auf – es war abscheulich und deprimierend (dabei doch nur ein Vorspiel der Hungertage im Vogtland). Die Landschaft, immer Variante desselben Themas, bot diesmal besonders viel Feldblumen in Rot und Blau und Gelb, dazu etliche malerische Flussbilder. Einmal, das sehe ich vor mir, lässt eine Polengruppe mit Frauen Pferde im Wasser baden und saufen, während der Wagen zur Fahrt bereit steht. Einmal stossen wir auf einen sehr zigeunerhaften Wandercircus, dessen Wohnwagen rastet. Ich trage * E.s flammenzerfressenen Pelz über dem Arm, eine junge Frau mit frechem Gesicht, sehr zigeunerhaft, greift nach dem Pelz: Wozu braucht Ihr den, lasst ihn mir! Ich zucke unwillkürlich zurück. Die Person, gekränkt, sagt verächtlich: []Ich will ihn nicht haben, ich nehm ihn nicht geschenkt. Eine Minute vorher hatte ich die Leute gefragt, ob wir ein Stück in ihrem Wagen mitkönnten, sie zogen aber in anderer Richtung, nach Nürnberg zu. Ein drittes Bild dieser Wegstrecke: unter uns, in der Nähe des Dorfes Laaberberg a/d. Laaber, aber ganz isoliert im grünen Rasen, liegt ein grosser grauer wimmelnder Haufen, wie ein aufgeblasenes Schlauchstück, flach, anfangs undefinierbar. Dann unterscheidet man: ein amerikanisches Truppenlager, in dem zwischen die Zelte Autos gestellt sind, also durchweg eine Mischung aus Zelt- u Wagenstadt. Aus dem Gewimmel klingt lange Geschrei zu unserm hochgelegenen Weg hinauf ... Einmal plaudern wir lange mit einem alten Schlesier. Er erzählte, wie in seiner Heimat die Pfarrer einen verbotenen Hirtenbrief von der Kanzel verlesen haben: Die Gendarmen haben sich Blasen an die Füsse gelaufen, um in allen Dörfern die Geistlichen zu warnen: Wir werden von Regierungswegen morgen um die und die Zeit in der Kirche sein – lest den Brief vorher, oder lasst die Gefahrstellen weg, wir dürfen nichts hören! In Lan[g]quaid, einem sehr grossen Flecken, beinahe Klein-Aichach, mit Brauerei, Gasthöfen (Plural) Kaufhaus im Centrum, dann rasch zum Dorf abfallend, mit Bahnhof – dort stehen Güterwagen mit achtzehn riesigen Scheinwerfern (Amerikanische Beute), in Lan[g]quaid halten wir um Fünf längere Rast. Im Wirtshaus wie überall audi in diesem Bezirk, wird viel auf die Amerikaner gescholten: sie plündern, sie rauben Schmuck und Uhren, einer hatte den ganzen Arm mit Uhren be[b]ändert .. der Kommandant aber hat auf deutsche Beschwerde erwidert: []Ihr lebt hier noch wie im Paradiese, verglichen mit dem, was unsere Verbündeten in Russland und Frankreich von Euren Soldaten auszustehen hatten. Ähnliches hörte ich dann auch in Regensburg, und das habe ich hier schon oft erzählt, wenn einer meinte, die Russen seien unkultivierter als die USAler. Wir sind nun in der Regensburger Sphäre, nach dem Ortsschild noch 36 km entfernt. Ich sage, wir wollen zu * Dr. Ritter. – Den haben sie doch gehenkt! – Der Ortsapotheker widerspricht: []nicht den Dr. Ritter, sondern den Domprediger * Mayer 1 ...Wir sind ein bisschen erholt, die Sonne ist ein bisschen herunter, so fressen wir noch die paar km. bis zum nächsten Flecken,

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