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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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soll.
    In diesen Tagen sehr viel Ablenkung. Dreimal hintereinander ausgedehnte Nachmittagsfahrten, jedesmal nur rund 80 km., aber mit dazwischen gelegten Pausen und bei schwierigen Strecken.
    Am Sonntag über Har Dippoldiswalde, Sadisdorf, Hartmannsdorf nach Frauenstein. Kurz vor dem Ort eine schöne namenlose Talsperre, wie ein natürlicher Waldsee wirkend, gerade wegen einer gewissen Bildunfertigkeit und stillen Öde. Die grosse Strasse überquert die Sperre an ihrem schmalen Anfangszipfel, und man hat zur anderen Seite ein dürres Gewässer, das in steinigem Bett zwischen Wald und Rodung scheinbar harmlos sickert. Die Strasse nach Frauenstein geht dann durch Waldung weiter. Wir liessen den Wagen stehen (das Gleiche hatten hier allerlei Leute getan, sie lagerten, einige hatten die Sessel ihrer Autos herausgenommen) und gingen durch den Waldstreifen an die Breitseite des gestauten Sees. Gegenüber eine stille Kahlheit, Wiesen und Felder. Wir machten eine zweite Rast in Frauenstein selber. Winziger Ort mit formlosem riesigem Marktplatz um die Kirche und geradezu gewaltiger Schlossanlage hoch über dem Nest. An durchaus mittelalterliche Burgruine und Burgmauern schliesst sich ein grosses Schloss etwa des 16. oder 17. Jh.s. Weiter Blick in Thalkessel und Berge. Dass wir auf einer Blaufahrt einmal nach Frauenstein hinübergesehen haben, erinnere ich mich; dass wir schon einmal im Schloss oben gewesen sind, glaube ich nicht. Zurück auf teilweise schon befahre[n]er Strecke: Bobritzsch, Grillenburg, Tharandt.
     

 
    20. Juni, Sonnabend, gegen Abend.
    Von Frauenstein zurück, übermittelte uns * Frau Lehmann die Telephonnachricht: * * Jelskis ante portas. Es wurde eine schwierige, durch grosse Hitze doppelt anstrengende Woche und endete natürlich mit nachgebenden Nerven und häuslichem dépit.
    Ich holte Montag Mittag beide J.s vom Bahnhof; * Marta musste am Nachmittag nach Prag weiter, * Jul. sollte ein zwei Tage hier auf sie warten. Ich brachte M. am Nachm. zur Bahn, dann machten wir mit * J. eine Fahrt nach Freiberg und besahen ein bisschen den Ort und (äusserlich) den Dom. Immerhin wieder 80 km. Fahrt und grosse Müdigkeit am Abend und keine Möglichkeit wirklichen Ausruhens. J. wurde in meinem Zimmer aufgebettet, stand früh auf, wollte unterhalten und mit Frühstück versehen sein, verschwand dann in die Stadt, war aber nach Tisch wieder da. Diesmal fuhren wir mit ihm über Kipsdorf nach Oberbärenburg und gingen dort ein bisschen spazieren. Wieder 80 km., wieder die Mühsal des Abe[n]ds, des nächsten Morgens. Wieder kurze Erholungspause. An diesem Mittwoch Nachm. brachte ich ihn zur Bahn. Er ist ein gebrechlicher alter Mann geworden, eigentlich zu gebrechlich für 69 Jahre, geht schwer am Stock. Er ist nicht unliebenswürdig und für Freundlichkeit unverwöhnt dankbar. Seine von Marta behauptete Neigung für * Hitler ist offenbar ganz geschwunden. Er kann nichts dafür, dass er uns nervlich sehr mitnahm. – Am Donnerstag war sozusagen Rasttag, und zum erstenmal spürte ich, dass ich doch etwas aus * Rousseau werde herausholen können. Aber am Freitag Mittag passierte * Marta von Prag kommend Dresden und liess sich bei der Bullenhitze natürlich sofort zum Übernachten erbitten. Um ½ 6 holte ich sie von der Bahn, gegen sieben fuhren wir in Richtung Meissen, bogen vor der Sonnenblendung auf Nossen zu ab, gerieten auf schlechte Strasse, mussten umkehren und kamen irgendwie über Wil[ l ]sdruf und Tharandt nach Hause. Auf diesem Weg gab es aus nichtigstem Anlass, eben aus Nervenverbrauchtheit Zusammenstos[s] zwischen * E. und mir. Ein unfreundlicher Abend; dann musste ich heut um 5 auf, allein den Wagen herausbugsieren, * M. zum 7Uhrzug bringen, hinterher unser Frühstück machen. Ich habe den ganzen weiteren Vormittag geschlafen, oft auf dem Sopha, dazwischen bei Lektüreversuchen. Erst am Nachmittag kam ich den Reveries du * prom. sol. 1 näher; aber die ekelhafte sinnlose Verstimmung mit E. blieb, die Erschöpfung und die vielen Entzündungsschmerzen blieben auch. Die Lust am Autofahren ist momentan etwas gedämpft. M.s Bericht aus Prag ist sehr trostlos. Niemand glaubt mehr an eine Änderung der Lage. Ihr * Sohn Willy kommt trotz seines Communismus nicht nach Russland herein, findet in Prag weder Arbeit noch genügende Unterstützung, kann von Deutschland aus nicht mehr unterstützt werden, da alle Geldzufuhr unterbunden ist, verkauft Wanzenpulver und studiert Flöte.
     

 
    23. Juni, Dienstag.
    * Etsu

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