Klemperer, Viktor

Angaben hinkomen wollte, Kriminalkommissar Strell * Schrell Zimmer 123 im Polizeipraesidium. Am Montag nach dem Colleg dort. Am Zimmer: Betrug, daneben die Thür: Capitalverbrechen. Großer Raum, Beamte, klappernde Schreibmaschinen. Schrell ein sehr höflicher großer Mann, Civil, kleines Hakenkreuz. Legt mir die Aussage des Sandel vor. Ein bißchen mitleidig lächelnd, wie ich auf so einen Menschen hereinfallen konnte. Sandel, polnischer Jude u. Staatsbürger, vorbestraft gibt alles zu u. erklärt das Geld sei ihm in der Betrunkenheit abhanden gekomen. Er hat es verwürgt, sagt der Beamte. Ich konnte die Aussagen des S. nur bestätigen. Was nun? – Geht an die Staatsanwaltschaft. – Bekome ich mein Geld? – Wir bestrafen nur das Delikt. Wenn S. verurteilt ist, können Sie Ihren Schaden einklagen!
    Am 19. waren wir im Kino. Shanghai Express 1 Kindlichste Amerikahandlung, Sensation u. Rührung. Shanghaï-Lilli u. der engl. Arzt. Trotz ihrer wüsten Vergangenheit kriegt man sich, nachdem sie ihn vor dem Schicksal der Blendung gerettet hat. Glückliche * Marion de * Lorme, unkundiger unseliger * Richelieu, 2 der, zum chinesischen Bandenführer geworden, von einer Chinesin erdolcht wird. Aber wie gut ist der Kitsch ins Lokalkolorit getaucht, wie gut wird er gespielt! Das Ganze ist eine Eisenbahnfahrt von Shanghai nach Peiping während des Bürgerkriegs. Internationales Publikum, der Missionar, der Franzose, die Boardinghaus-Inhaberin usw. Truppen, Überfall .. Man spricht englisch (knappe Übersetzungsstreifen). * Marlene Dietrich, 3 * Anna May Wong 4 u. einige mir unbekannte sehr gute Engländer.
    Vorgestern Abend * Dember (allein) bei uns. Beschäftigungslos, fieberhaft wartend, zwischen Hoffen u. Verzweifeln. Er sagt: wir haben alle Emigranten-Mentalität, wir hoffen auf Rettung von außen, d.h. auf Niederlage Deutschlands, Invasion etc. Dazu stimmte ein Abendbesuch * Frl Walters am 21/6. * Ihr Vater war Amtsnachfolger des meinigen in Bromberg, ist jetzt Rabbiner in Cassel. Sie hat ihr Examen als Diplom-Volkswirtin in Leipzig gemacht, ist Bibliothekarin an der Landesbibl., steht vor der sicheren Kündigung, will nach Palaestina. Sie ist längst Zionistin, orthodox, koscher, liebäugelt mit Rußland, mit alledem gebildet u. nicht eigentlich fanatisch. Aber an Deutschland hat sie nie gehangen, ist also in ihrem Innern unverletzter. Sie erzählte u.a., daß rituelle Juden ihr Fleisch aus Dänemark kommen lassen.
    Ich habe beobachtet: seit dem 20/6. ist in den Regierungs-Kundgebungen nicht mehr von nationaler Erhebung (Etappe I) oder von nationaler Revolution (II) die Rede, sondern von nationalsozialistischer Revolution. Dazu das neue Schlagwort: angestrebter totaler Staat . Unter dem * Volkskanzler.
    Am 29/6 sagt ein Reichsminister ( * Goebbels in Stuttgart) zum erstenmal in öffentlicher Rede: Wir dulden keine Parteien neben uns, Hitler ist unumschränkter Herr in Deutschland. ( * Hindenburg verschwunden).
    Recensionen: * Schröder * Racine u. Humanität, * Burkart * Mme Lafayette 1 fertig u. abgesandt mit * Appel * Misanthrope zusammen. Seltsamerweise von der Lit-Ztg. akzeptiert u. Neues von ihr in Aussicht gestellt. Ich klamere mich an die leiseste Möglichkeit des Publicierens. Nur nicht ganz begraben sein.
    Zwei sehr erschütternde Sachen vorgelesen. 1) * Nitti Flucht (Noch vor ein paar Wochen für 95 Pf im Reka 2 gekauft. Jetzt natürlich unmöglich zu erhalten) Ein Neffe des früheren ital. * Ministerpraesidenten, 3 der 1928 von Lipari nach Corsika geflohen ist u. seine Erlebnisse in fascistischer Gefangenschaft erzählt. Ergreifend die haargenauen Analogieen zu unserem Zustand. Der Mann schreibt nach 5 Jahren Fascismus, prophezeit ihm das sicherste Ende. Inzwischen regiert * Mussolini 4 weitere fünf Jahr[e] u. ist absoluter Herr. Und bei uns dauert das erst 5 Monate, eigentlich noch weniger.
    Noch viel ergreifender: * Fallada 5 : Kleiner Mann was nun? 1) Der kleine Angestellte (Confektion) u. Durchschnittsmensch Johanes Pinneberg, ausgesogen vom Organisator (Verkaufsquote: das Gehalt 20 x) wird arbeitslos, wird durch Arbeitslosigkeit deklassiert. 2) Sein Ehe- und Sexualleben, seine Liebe, seine überdurch schnittliche Sittlichkeit. Vaterwerden, Vatersein. Sehr bedeutender Humor aus tiefer Tragik u. großer Komik. 3) Das Lämchen; die ganz reine, ganz idealisierte Frau, dabei doch Arbeiterkind u. zur Ehe geführt durch vorehelichen Verkehr. (Cap. 1. beim Frauenarzt.[)] Die Arbeiterfamilie Mörschel, Vater Soz.