Klemperer, Viktor
Dem., Sohn Communist, in scharfem Contrast zu dem kleinen Angestellten u. Bourgeois. [4]) Der Hochstapler = u. Schieberk Kupplerkreis Mutter Pinneberg u. Holger Jachmann, in dem eine Sehnsucht nach Reinheit ziemlich resigniert lebt. Central Central aber immer der kleine Verkäufer. Einer von 6 Millionen Arbeitslosen. Communismus u. Nationalsocialismus am Rand. Der Autor (1932!), kein Antisemit, betont kein Antisemit, versteht u. belächelt beide Parteien, hat nur Mitleid mit den 6 Millionen u. zeigt eigentlich zwischen den Zeilen die komende Katastrophe. Im Nachspiel: Arbeitslos, Wohnen in unerlaubter Laube, kragenlos, als vermeintlicher Demonstrant vom Trottoir gestoßen – symbolisch für entbürgert – hört die Komik auf u. reine Tragik dominiert. Sie bedrückt schließlich doch nicht, weil Liebe am Schluß steht. Eine dichterische Leistung größten Ranges. Äußerster Verismus, betonte Nichtsentimentalität, dennoch sehr rührend, sehr idealistisch . Starker Humor. Die traditionelle Komik der Kapitelüberschriften wäre unnötig.
Brillante Nebenfigur: der gute Mensch u. tüchtige Verkäufer Heilbutt. Mit dem idealistischen Sparren der Nacktkultur. Entlassen, sinkt er (finanziell steigend) zum Händler mit Nacktphotos. Er hilft Pinneberg; er will ihm Verdienst geben, P. kann das Geschäft nicht machen, er ist zu reinlich. Brillant wie die Ehe ihn zur Reinheit erzieht. – Das Buch dürfte von einem Arzt geschrieben sein. – Die ergreifendste Lektüre der letzten Zeit. Und immer der Gedanke: seit Jahren ist jeder zehnte Mensch in Deutschland arbeitslos.
– – Für mein Lexikon ist neben Schutzhaft zu setzen: Der Volkskanzler .
* Burkhart spricht in ihrer * Lafayettemonographie von Sparmaßnahmen des klassischen Stils. Zeichen wie aktuelle Worte einer Sphäre in andere Sphären dringen. (Vgl. Kriegsausdrücke, verankern usw.[)]
Sonnabend 1. Juli .
Sprachnotiz: * Goebbels in der Hochschule für Politik am 30/6 (also feierliches Colleg) über den Fascismus (also anerkennend): Die fascistische Partei (in Italien) hat eine Riesenorganisation von mehreren Millionen aufgezogen, in der ist alles zusamengefaßt: Volkstheater, Volksspiele, Sport, Touristik, Wandern, Singen, u. wird vom Staate mit allen Mitteln unterstützt. (Bericht Dresdener N. N. 1. 7.) Aufgezogen – unbewußt mechanistisch, wenn es vom automatischen Spielzeug, unbewußt schaustellerhaft, wenn es von Aufzug = rappresentazione herkommt. Zu gleichschalten setzen.
– Gestern Abend bei * * Blumenfelds . Emigranten-Mentalität. * Jule Sebba u. seine * * Familie gehen im August nach Palaestina. Sebba, der anerkannte Commentator des Deutschen Seerechts, ist in Deutschland erwerbslos geworden. – * Frl. Wiechmann war auch dort. * Ihr Bruder, 47 Jahre, Generalstaatsanwalt am Kamergericht, in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Weil ein Nationalsocialist auf diesen Posten müsse u. er selber betont parteilos sei. –
Zu aufziehen ist noch zu sagen: 1) Das Wort tauchte offiziell vor etwa zwei Monaten auf, da war es noch pejorativ: Die Studenten hätten das wissenschaftlich aufgezogene Institut für Sexualforschung des Prof. * Magnus Hirschfeld 1 zerstört. 2) In dem allgemeinen Ausdruck aufziehen für verspotten liegt wohl jene Doppelbedeutung: ich weiß wie der Gefoppte reagieren wird, ich zwinge ihm eine vorberechnete Bewegung auf, ich lasse ihn tanzen oder steigen – und: ich kostümiere ihn auf komische Weise.
Sonntag 9 Juli
Am Freitag Abend bei * Frau Schaps: * Jule Sebba auf einen Tag da. Er wandert mit seiner Familie aus. Anwalt seit 1909, Notar, Dozent an der Handelshochschule Königsberg, Verfasser eines großen Opus über das deutsche Seerecht, 2 nicht unter den Hinausgeworfenen u. doch faktisch mattgesetzt u. hinausgeworfen. Er muß mit seiner Familie ( * Elfriedchen ist jetzt 11 Jahre, sie ist hier bei der * Großmutter) tatsächlich ein neues Leben anfangen. Im Oktober wird der Hafen von Haifa eröffnet; dort macht er eine Schiffshandlung auf. Er hat einen alten orient-erfahrenen Socius gefunden, er selber gibt das Geld. (Offenbar hat er Vermögen in ausländischer Sicherheit) Der Fall Sebba ist nicht der tragischste; S. hat kaufmännische Begabung u. Interessen, er hat nie eine sonderliche Bindung an Deutschland verspürt, seine Eltern kamen aus Rußland – dennoch ist er doch in seiner ganzen Bildung u. Lebensführung Deutscher. –
Wir hören jetzt viel von Palaestina; es sagt uns nicht zu. Wer dort hingeht,
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