Klemperer, Viktor
und weiterschreiben und verbesernwollen und komme mit nichts von alledem wirklich vorwärts. 2) Die entsetzliche Stagnation der politischen Lage, das Lavieren Englands usw. nimmt mir allen Mut, ich glaube wiedermal, dass das dritte Reich noch Jahrzehnte halten kann, dass es wirklich dem Volkswillen und Volkscharakter Deutschlands entspricht, und in dieser Depression erscheint mir mein Tun so völlig zwecklos, und scheint es mir so völlig gleichgültig, ob bei meinem Tode ein paar Dutzend Manuscriptseiten mehr oder weniger herumliegen. 3) das Geld von * Georg, das keines der grossen Löcher zu stopfen vermag und mir durch die Hände läuft (mit 150 habe ich immerhin die kleine Idunapolice auf ein halb Jahr gerettet – aber vielleicht wäre es vernünftiger gewesen, auch diese 150 in Vergnüglichkeit umzusetzen –, und für 90 M. habe ich Kohlen kommen lassen, und für die wieder grässlich schwellende Zahnarztrechnung ist ein kleiner Fonds da) das Geld also ermöglicht für ein paar Wochen stärkere Benzinausgaben, und so rollen wir eben aus der Hitze und dem Küchendienst und der Misere trübster Gedanken wieder und wieder heraus, solange eben der Vorrat reicht.
Wir waren am Sonnabend dem 24. Juli noch einmal in Hirschsprung. * Frau Riese war diesmal sehr verfallen und zum erstenmal eine gedächtnisschwache Greisin; * Frau Dember sagte uns insofern Ermutigendes, als sie von dem Auslandsunwert der deutschen Mark erzählte – aber an einen Krieg und an eine baldige Änderung in Deutschland glaube niemand. – Gleich am nächsten Morgen, Sonntag 25. Juli starteten wir in plötzlichem Entschluss nach Falckenstein zu * * Scherners. Teils weil ich jetzt besser fahre als im Vorjahr, teils weil wir die Autostrasse Dr.–Meerane voll ausnutzten, kamen wir rascher vorwärts als damals. Halbwegs zwischen dem Verlassen der Autobahn und Falckenstein, in einem kleinen Ausflugslokal Ebersbrunn (?) ass * Eva zu Mittag und ich telephoni[e]rte Scherners an. Er hatte Dienst und die Buchhalterin, die uns vor ein paar Wochen Grüsse von ihm gebracht, war bei ihm; wir nahmen sie später auf der Rückfahrt mit, sie war nicht störend. Wir bekamen in Sch.s Apotheke einen guten Kaffee, wir fuhren Sch.s (und ihren Dackel) ein paar km. spazieren zu einer [k]leineren Thalsperre im Wald, wir fuhren um 7 zurück und erreichten mit Einbruch der Dunkelheit die Autobahn bei Glauchau. Nun sehr schnelle aber doch anstrengende Nachtfahrt – die entgegenkommenden Schei[n]werfer erschweren den Blick, sind übrigens phantastisch schön. (dazu hing ein überlebensgrosser Mond über Wald und Bahn. Nach zehn auf dem Hauptbahnhof, wo wir das nach der Meissener Gegend gehörige Fräulein absetzten und noch eine Kleinigkeit assen. Tagesleistung 330 km. – Ich mache jetzt absichtlich fast gar keine Landschaftsangaben mehr. Weil mir die Zeit fehlt, weil ich Landschaft nicht schildern kann, und weil das Mittelgebirge immer im Wesentlichen das gleiche schöne Mittelgebirge ist. Ich kann doch nur immer wieder sagen: Wald, Waldhügel über weit[e] Einsenkung gesehen usw. Mir macht das immer wieder grosse Freude, aber ein bisschen Sehnsucht nach grösserer Ferne ist nun doch schon dabei. Auf der andern Seite frage ich mich, was mir die grössere Ferne geben soll. Wieviel lebendige Erinnerung von unsern weiten Reisen ist mir denn geblieben? Und was nehme ich von alledem mit, wenn morgen oder in ein paar Jahren alles zuende ist? Wenn ich mich recht prüfe, geht es mir immer nur um das Fahren, die anspannende ablenkende übertäubende Bewegung. Und wohl auch um das Gefühl, Eva aus ihrem langen Stillsitzen zu befreien, ihr das Gefühl der Lähmung zu nehmen.
* Scherner ist übermässig dick geworden, etwas leidend, wohl auch geistig gealtert. Von den wissenschaftlichen Aspirationen, auch von dem Kleinstadthass der früheren Jahre ist nichts geblieben. Er ist der Sklave seiner Apotheke, er verkauft wie ein Grünkramhändler, er ist im Gehen und Sehen behindert, er setzt 60 000 M. im Jahr um, arbeitet aber nur für seine Gläubiger, kann sich keinen Wagen anschaffen, weil sie es ihm verübeln würden, er zieht im Garten hinter der Apotheke Hühner und Tauben, verkauft auch gelegentlich Eier, seine * Frau ist wie [e]r sehr dick, tagüber in der Apotheke und dabei wie er zufrieden. Sie sind keine Nazis, sie hängen mit Liebe an uns, aber das Bild des * Führers hängt in der Apotheke, und die Politik scheint ihnen ganz gleichgültig. Sie vegetieren bourgeoishaft und
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