Klemperer, Viktor
an, was sich in Gebrüll bei der Schwierigkeit der Stadtfahrt entlud. Kaffeeauffrischung, Besichtigung des Marktes, Roland und das altertümliche Gesamtbild. Für uns alles Repetition. Am Spätnachmittag nach Hamburg. Dreiviertel der Strecke ziemlich öde Autobahn. Bald kam mein Bock ins kochen, wurde auch nicht kühler, als ich langsam fuhr. Aufenthalt. Nach Verlassen der Strasse aus einem Privathaus Wasser geholt, erst ich vergeblich, dann * Eva erfolgreich. Aufenthalt. In den Vororten Hamburgs riesiger zurückflutender Sonntagsverkehr, lange Stockungen. Dunkelheit. Wir verfuhren uns, entfernten uns vom Stadtcentrum, kamen in ödes Industr[i]egelände (Veddel), waren endlich etwa um neun am Bahnhof. Essen in einem Restaurant, der Brille nachgeforscht und sie gefunden, Beschluss, die 15 km zum Schützenhof Lohbrügge zu fahren. Gretes wechselnde Stimmungen: erst war die Treppe im Schützenhof (und der locus im Parterre[)] ihre Verzweiflung gewesen, jetzt verlangte sie dorthin wie in eine Heimat. Ankunft etwa ½ 11, vergnügt besoffene Gesellschaft, die [W]irtsleute nahmen uns wie alte Freunde auf. Wir tranken noch Malzbier auf der Veranda vor unserm grossen [Z]immer, auf der Strasse sangen zwei junge Männer sentimental besoffen aber mit hübscher Zweistimmigkeit: unter diese[m] Stein ruht das treueste Mutterherz usw.
6) Montag 23. 8. Abfahrt von Lohbrügge um 10, nachdem ich den Wagen hatte abschmieren lasse[n] (grosse Tankstelle unmittelbar vor dem Haus). Dicht vor Hamburg auf die Autobahn nach Lübeck, etliche 50 km. Wieder das Kochen. In L. dann die Belehrung: der normale Wagen verträgt nicht das pausenlose Gasgeben, wozu die Autobahn verführt .. Was an Lübeck wunderbar wirkt ist der Blick aus der Ferne, wenn man nichts sieht als nur ein halbes Dutzend schlanker grüner Türme. Dann wie ein Filmaufbau das Holstentor, die beiden gegeneinandergeneigten dicken Rundtürme und wieder dahinter und daneben die Kirchtürme. Der Zauber lässt nach, wenn man in die Stadt selber kommt. Prachtvoll der Marktplatz mit dem dichten In- und Nebeneinander der riesigen Steinbau[t]en im Ordensstil, Kirche, Rathaus, Kollonaden, Türme und Türmchen, ihre Spitze bisweilen durch ein Oval im Zinnenwerk wie in einem Rahmen sichtbar – aber das bleibend Ein[z]igartige ist doch die sozusagen stilisierte Ausssenansicht: gar keine Stadt, nur im leeren Raum das Tor und die Türme. – Nach Besichtigung und Mittagsrast fuhren wir die etwa 18 km. nach Travemünde, das Flüsschen mit einem Seglerhafen, haffartiges Gewässer und dann die Ostsee. Da war ich glücklich, und Travemünde ist der Dreisternchenort und erfreulichste Punkt der ganzen Reise. Nach der Ostsee hatte ich mich jahrelang gesehnt. Hier ist wirklich Meer. Man sieht und hört die Wellen, es ist farbiges Wasser da, man kann die Hände hineintauchen, man sieht den Badenden zu (ein junges Tanz- oder Akrobatenpaar brillierte aufs anmutigste), man sieht eine weitgeschwungene etwas erhöhte Küstenlinie, man sieht Dampfer, Segelschiffe, Segelboote – es muss nicht Travemünde sein, es könnte irgend ein anderes Ostseebad sein, es ist Die OSTSEE schlechthin, mit der mich so viele schöne Aufenthalte verknüpfen und auch der von 1904 – ich habe auf dieser Fahrt mehrfach geglaubt auf der Hochzeitsreise zu sein, und was die Liebe anlangt, so ist sie mit den Jahren und dem Gefühl des unvermeidlichen Endes nur immer leidenschaftlicher geworden – – aber auch ohne alle Sentimentalität: ich liebe die Ostsee über alle Maßen, und die Nordsee bleibt mir fremd. (Vielleicht wäre das im offenen Sylt anders geworden – aber das haben wir ja nicht erreicht, und Cux[h]aven und Duhnen bieten Silberschlamm und langweilige Deichlinien.) Wir sassen erst in einem Cafégarten am Strand [(]über uns übten Flieger, und * Gretes Ablehnung der Fliegerei – dadurch werde die Menschheit nicht glücklicher erschien mir als erstes Zeichen der Senilität), gingen dann ans Wasser selber, auf den Seesteg, sahen den Badenden und Segelnden zu. Der zweite Fahrthöhepunkt. Gegen Fünf nach Wismar. Hier wiederholte sich verstärkt und simplifiziert, was ich in Lübeck empfunden hatte. Über welliges Gelände hinweg tauchen aus dem Nichts zwei nur in der Grösse verschiedene Riesenblöcke auf, Burgen und Kirchen in einem, gewaltige Klötze mit Türmen (im Ort sieht man dann, dass es sich um drei Kirchen handelt). Die Burgen wachsen und bleiben ganz allein im Raum, man kommt immer näher und sie stehen
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