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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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setzte unser Umgehungsmanöver auf Eberswalde zu an. Wir kamen auf Seitenstrassen, es wurde dunkel, Wegweiser waren nur zu entziffern, wenn man ausstieg. Die Fahrt wurde langsam und mühselig. Kanäle und Brücken, Strassengewirr, aus dem langges[t]reckten Eberswalde kein Herauskommen. Einmal glaubte ich Eva schon im Wagen und fuhr an, als sie noch draußen Erkundigungen einzog und mir nachrief: Wollt Ihr mich nicht mitnehmen?! Es war irgendwo am Ausgang Eberswaldes, wir sollten gerade in eine Waldnacht tauchen. Gewirr bei Zerpenschleuse, Wald in grosser Ausdehnung. Heckelberg. Um ¾ 10 endlich Strausberg .. Abendessen, fehlendes Getränk. Als Grete sich zurückgezogen, gingen wir zur nahen Elektrischen, Station Schlagmühle, fuhren in den Ort, tranken im Schwan die schönste Weisse mit und waren wieder mit dem el. Zug gegen 1 zu Hause. Das war der Abschluss der grossen Küstenfahrt.
    8.) Mittwoch 25. 8. Vor dem Frühstück im Ort getankt. Nachher recht müde, ein wenig geschlafen, ein paar Schritte allein im Wald und auf der Landstrasse. Heraufkommendes Gewitter, beginnender Regen. Ich ging rasch, in Joppe und ohne Mütze. Ein paar Bauernmädel und –[f]rauen kamen geradelt; eine Frau rief mir zu: Opa, geh nach Hause – sonst wachsen Dir die Haare! Ich musste lachen, war aber doch ein bisschen betrübt. Opa! Der Parkwärter in Duhnen hatte mir am Morgen nach dem kleinen Zwist gesagt, so viele Kilometer seien zu grosse Anstrengung bei Ihren Jahren .. Es war verabredet, dass wir am Abend mit * Grete und * Frau Kemmlein ins Kino führen. Gegen Abend machten wir beide einen kleinen Waldspaziergang, irrten, beim Umkehren, kamen statt bei der Schlagmühle bei der Stadtnäheren Hegermühle an die Bahnlinie, mussten auf den Zug warten und waren statt um 7 um ½ 8 zurück. Da machte mir Grete, die Hand auf das schmerzende Herz gedrückt mit athemloser Stimme eine Scene, als hätte ich sonst was verbrochen, und ich begann zu spüren, dass ich das Vergnügen der Fahrt würde bezahlen müssen. Nach dem unerfreulichen Essen fuhren wir dann ins Strausberger Kino, wo Gretes Erregung allmählich abebbte. Zum erstenmal in meinem Leben habe ich ein paar Minuten in einem Kino geschlafen. Dabei war das Stück in ein paar Scenen recht gut und wurde durchweg gut gespielt. Der Mann der Sherlock Holmes war. 1 * Albers [a]ls Holmes, Watson: * Heinz Rühmann. In der charakteristischen Kleidung und Maske der beiden Romanfiguren bestehen sie Abenteuer, beginnend mit dem Anhalten des Schnellzuges und Controllieren der Pässe. Jeder flüstert sich zu: Sherlock Holmes! Aber der Scherz wird zu lang ausgesponnen, die Parodie wird ernster und allzu chaotischer Kampf mit einem ganzen Rattenkönig von Verbrechern – man verliert den Faden, weiss nicht, ob man Ernst oder Parodie vor sich hat und ist gelangweilt. Auch spielen Albers und Rühmann zwar gut, aber notgedrungen immer das Gleiche. Am Schluss eine Gerichtsverhandlung, in der die harmlosen Fälscher freigesprochen werden (triumphaliter), und in der sich * Conan Doyle 2 bei ihnen für die Reklame bedankt. Wir tranken danach selbviert im Schwan Weisse mit, und das war das schönste und gefühlshaltigste Geschehen des Abends. Von Gretes Hysterie, Tyrannei und Senilität verbunden mit schwerer Unbeständigkeit der Stimmung und des Wollens hatte ich einen bösen Vorschmack bekommen.
    9.) Donnerstag, 26. 8. Die Absicht war, an diesem Tage (wo * Grete sich selbst und dem Ausruhen überlassen sein sollte) nach Bornim bei Potsdam zu fahren zur Besichtigung der Staudengärtnerei * Förster, 3 und v[ i ]on dort aus zu * Marta, wo wir für ½ 3 angesagt waren. Es begann zu regnen, der Weg streckte sich und war compliziert; in Köpenick beschlossen wir, direkt nach Berlin zu fahren. Was mir im Gedächtnis haftet, sind wieder die vielen Kanäle, immer ein hübsches Bild mit ihren Lastkähnen und Dampferchen. Köpenick ist eine physiognomielose mittlere Stadt, und von da aus rollt es sich von Vorort zu Vorort in den Berliner Südwesten. Der Verkehr ist, auch wenn man Berlin selber erreicht nicht anders als in andern Grossstädten, nur ist alles weit gedehnt, keine Stadt: eine Provinz, ein Reich für sich. Strassennamen sagten uns, dass wir das altvertraute Wilmersdorf erreicht hatten, Nassauische Strasse, Kaiserallee und so. Aber überall stehen riesige neue Gebäude, sind neue Plätze und Schmuckanlagen – seit 1912 bin ich mit Berlin ausser Connex, in 35 Jahren ist eine neue Stadt herangewachsen, mir

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