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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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immer noch allein im Raum, nichts, kein Haus, gar nichts von der Stadt ist zu sehen, Wismar, das sind die beiden isolierten Quader [V]ierecke mit Kirchtürmen. Nachher ist es ein altes Städtchen mit alten Häusern, die in jedem norddeutschen Ort stehen könnte[n], mit ein paar modernen Strassen und Läden, mit einem jämmerlich toten kleine[n] Hafenwasser. Wismar als Bild und Erinnerung, das sind die beiden Blöcke im Leeren. – Stark gegen Abend hinaus und eilig nach Schwerin. Ich sah nichts, ich fuhr nur concentriert in die Nacht hinein. Von ½ 8–½ 9. Am Bahnhof geparkt. In den anliegenden Hotels kein Unterkommen. Wir assen auf dem Bahnhof zur Weiterfahrt entschlossen. Der Kellner machte uns auf weitere Hotels in der Hauptstrasse aufmerksam. Wir kamen gut unter im Hotel Obotrit hinter dem Arsenal, einem riesigen gelbbraunen Zinnensteinbau Towerähnlich. Wir bekamen ein schönes Zimmer, mit dem Blick auf das Zinnendach, das mir dann am frühen Morgen aus dem Nebel bedeutend vor die Augen trat. Grete ging zu Bett, wir tranken ein Bier und machten noch einen Spaziergang. Mit seiner Vorderseite liegt das Arsenal an einem genau rechteckigen See, den See entlang eine Residenzstrasse mit kleinen Palais, Ministerien etc. Ein Drittel Ver[s]ailles, ein Drittel * Frideri[c]us, ein Drittel England. An der einen Schmalseite des regelmässigen Viere[c]kgewässers durch eine Allee von ihm getrennt, ein natürlicherer grösserer See, man hörte Kahnfahrende singen. Soviel sahen wir bei Nacht von dieser Stadt. – Welch ein Tag, welch ein Zeitraffer ist das Auto! Die Strasse von Hamburg nach Lübeck, Lübeck, Travemünde, Wismar, Schwerin, und alles in einen Tag gedrängt!
    7) Dienstag 24. 8. Das Geld und die Kraft gingen zu ende, der letzte Tag der grossen Fahrt. Am frühen Vormittag langsam durch Schwerin. Ein überwältigender absolut eigenartiger Anblick. Die reiche Residenz kleiner Fürsten im 18. Jahrhundert. Ich will durchaus nur festhalten, was mein wirklicher Eindruck, und was das jedesmal Charakteristische ist. Hier komme ich immer auf den besagten Dreiklang. Überall Gewässer, überall Park, Gartenkunst und Natur raffiniert verbunden, überall Fürstlichkeit. Ein Riesenplatz mit Hoftheater, Palais usw. Dann zwischen Seen, an denen Schilf wächst das eigentliche Schloss, Mittelalter und Renaissance, eine domartige Kuppel, verschiedene Stile. Prachtvolle seltene malerisch gesetzte Bäume, Durchblick durch Park, hügligen Rasenstreifen[,] Gewässer auf irgendein Trianon. (Über den grossen Platz zog wirklich hübsch und mehrstimmig singend eine Kol[o]nne Hitlermädel – neuester Ausdruck: die Maiden –, aber dann wandte sich die Führerin um und commandierte gelangweilt mürrisch: Lied aus! und der hübsche Eindruck verkehrte sich ins Ekelhafte des Zwanges und der Massendressur. Wir fuhren gegen 12 aus Schwerin heraus. Wald und Seeen und immer wieder Wald und Seen, und einen Unterschied zwischen märkischer und mecklenburgischer Landschaft fand ich nicht heraus. Eine Weile war ich noch interessiert, dann kam zugleich grosse Ermüdung und grosse Gereiztheit. Es war jetzt das böseste Fahrtstück für mich, ich kämpfte schwer mit dem Einschlafen am Steuer, gefährdete die Fahrt, bekam Zwist mit meinen Passagieren. Wir sind unterwegs (Manöverzeit!) mehrfach marschierenden Truppen begegnet, sehr vieler Artillerie, Maschinengewehren, etc, alles in Fliegeranstrich, alles bestahlhelmt, das Meiste motorisiert. Diesmal war solch eine Truppe buchstäblich meine Rettung: sie ließ mich den Schlaf überwinden, der mir den Wagen ein paarmal an den Strassenrand drückte. Amüsant war, wie * E[ a ]va mitten im Walde * Grete die Haare schnitt und den Haarkranz an der S[t]rasse niederlegte; wir malten uns aus, we[l]che kriminalistischen Combinationen möglich seien. Um ½ 3 Neustrelitz. Es machte gar keinen Eindruck auf mich, obwohl auch hier ein Riesenplatz, ein Schloss, ein Gewässer, ein Park, eine fürstliche Athmosphäre. Alles war wohl wirklich ärmlicher und kahler als in Schwerin, aber vor allem war ich übermüdet[ u ] und übersättigt. Längere Rast (bis ½ 5) und [M]okka frischten mich auf. Nun auf schnurgerader und glatter Strasse (so ist wenigstens das Erinnerungsbild: ein Strang zwischem regelmässigem Wald, sowie die Eisenbahnlinie in Oranienburg von Gransee her aus dem Walde trat) bis nach Löwenberg, etwa 60 km. nördlich von Berlin. Nun aber fürchtete sich Grete vor der Fahrt durch Berlin, und um 7 ungefähr

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