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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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gewohnten Leben herauszusein, und besonders dehnen sich die bisher zwei Tage, seit Grete hier ist. Für umsonst ist nichts zu haben ... In Duhnen auf dem Scheitelpunkt der Fahrt zeigte der Messer 862 km. Dann versagte der Zähler; nach annähernder Schätzung dürften wir Dresden bis Dresden rund 1 900 km. durchfahren haben, ohne Unfall und Panne. Am letzten Tage, hinter Kottbus, merkte ich ein Versagen, das allmählich entschiedener [w]urde. Tags darauf in Dresden Hemmungen. Zu * Wolf, er wird morgen aufmachen und nachsehen – wahrscheinlich ist ein Lager entzwei, jedenfalls liegen wir heute still, und der Sonntag dehnt sich qualvoll.
    1) Mittwoch, 18. 8. Nach elf hier fort ( * Eva hatte den Abend zuvor Kopfschmerzen, u. das Packen war verschoben worden.) Rechts der Elbe nach Meissen, bei der Brücke nach Grossenhain abgebogen, Liebenwerda, Elsterwerda. Hier zwei Uhr Mittagsrast. Dobrilug[k], Luckau, Lübben. ½ 6 Kaffee. Die Strecke zwischen Mittag und Kaffee war immer die schwerste für mich, da kämpfte ich jedesmal mit Schlaf und Gereiztheit. Sonst hielt ich mich gut. Neulübbenau, Storkow. Kurz vor Storkow das erste grosse Landschaftsbild. Märkischer See, Hügelland, ein Stück Kanal. Solche Bilder haben wir dann in immer neuen Varianten in der Mark und, mit Ausnahme der [K]anäle, in Me[c]klenburg so oft gesehen, dass sie mir zum [g]enerellen Bild verschmelzen. Das ist das Eigentümliche der Autoreise: der Raum einer Landschaft wird zusammengerafft, generalisiert. Ähnlich das Bild einer Stadt. Fang Zerpenschleuse, Herzfelde, Hennickendorf. Noch ein Kanalbild mit Kähnen, Nachtfahrt, ½ 9 Strausberg. * Grete sehr agil, sehr auf ihre Gesundheit bedacht, erbittert feindselig gegen * Marta. Übernachtung wie auf der ersten Strausbergfahrt. Ich erhielt von Grete 250 M. Davon sollten wir fahren, soweit es ging, und Gretes Fahrt nach und von Dresden bestreiten.
    2) Donnerstag 19. 8. Frühstück im Garten. Vormittagsfahrt mit Grete: Stienitzsee, Rüdersdorf, ein merkwürdig farbiges Gewässer eng von Kalkbergen umschlossen, hohe Schornsteine der Grubenanlagen, Kanalstücke. Nach Tisch Tankfahrt durch den langen Ort (eigentlich sind es zwei Orte, zwischen denen Wald, ein bisschen Siedlung und die Osbanstrecke 1 ); später mit der unersättlichen Grete bis dicht vor Eberswalde, dann Heckelberg, Tiefensee, Prötzel zurück. Immerfort Variationen der gleichen schönsten märkischen Landschaft: gemischter Wald, Heide, ein See, ein Stück Kanal. Die Strassen oft sehr schlecht, zur Hälfte Sommerwege, zur Hälfte gewölbte Strassendecke.
    3) Freitag, 20. 8. ½ 10 Beginn der grossen Fahrt, hinter m[i]r * Grete dick verpackt, neben mir ein Koffer. Berlin vom Alexanderplatz bis nach Spandau. Tags zuvor war der 700 Jahr-Festzug gewesen, überall Hakenkreuzfahnensc[h]muck, Guirlandenwerk, ein paarmal bekränzte Autos mit dem Berliner Wappenbären. Grosse nervenpeitsch[end]e Herzbeschwerden, im (IM!) Brandenburger Thor die Haltelinie übersehen, sanfter Polizeianschnauzer, Quälerei mit dem schlecht anfahrenden Bock. Um 12 abgekämpft an einer Aussentankstelle bei Spandau. Nun stundenlange rasche Fahrt auf guter Strasse durch ziemlich eintönige Gegend, bisschen Wald, nicht so reichlich wie näher bei Berlin, Heide, weitgedehnte Äcker, die kleinen Städte alle gleich. Auf einem Wegweiser der Name Paulinenaue erweckte mir irgendwelche Kindheitserinnerung. Grete sagte mir: es war die Umsteigestelle zur stillen Pauline, der Kleinbahn nach Ruppin. ( * [H]edwig. [D]as kleine Doctorhaus. Die Soldaten im Manöver am Waldrand feuernd. Etwa 1892.) Kaffeerast in Grabow. Mit dieser Notiz verbindet sich mir schon kein Erinnerungsbild mehr. Um 4 weiter. Allmählich und dann am nächsten Tag bestimmend ganze weite Flächen wie riesige Äcker dicht mit leuchtendem Heidekraut bewachsen. Solche dichten riesengrosse violette Teppiche habe ich nie zuvor gesehen, überall anderwärts ist mir Heidekraut nur in unterbrochenen Flecken und Büscheln und weniger leuchtend begegnet. Allmählich auch intensiveres Wiesenland mit vielem Vieh. Aber vielleicht anticipiere ich damit das Landschaftsbild des nächsten Tages. – Mittag war im Wagen gegessen worden, Grete stieg nur aus, wenn sie durchaus im Walde verschwinden musste, einmal kam sie mit einem kleinen Schwäche- und Herzanfall zurück. Sie erholte sich und fuhr von Tag zu Tag besser und unverwüstlicher. Jeden Morgen drängte sie zum Weiterfahren, wollte nur immer gefahren sein, eine förmliche

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