Klemperer, Viktor
dort zu Mittag, und wir gingen ein paar Minuten zu Fuss durch die Herrlichkeit. Aber am Abend fühlte sich E. wieder schlecht wie all diese Zeit über. – Eine andere wesentlich länger zurückliegende hübsche Fahrt ging nach der Versuchsgärtnerei Pillnitz, eine dritte zum * Gärtner Heckmann weit draussen an der Meissner Landstrasse.
Zwei Kinobesuche wenig anregend. Geradezu ärgerlich der * Kiepura-Film Zauber der Boheme. 1 Die * Puccini-Oper ist sozusagen verdoppelt worden, indem sie im Mittelpunkt eines analogen Gegenwartsgeschehens steht; darin wird, was in der Oper glaubhaft ist, absolut unsinnig und langweilig dazu. Auch singt und spielt Kiepura diesmal langweilig und mechanisch. Dagegen war dann ein krasser Kriminalfilm – Falschspieler, Hochstaplerin, die ihr Kamelienherz entdeckt ( * Brigitte Helm) – betitelt Gauner im Frack 2 beinahe gut, aber an sich doch grässlicher Kitsch, von dem man ein bisschen beschämt nach Hause kam.
Am 18. Okt. ist * Georgs * Frau Maria auf der Europareise in Meran gestorben, wohl kaum älter als Anfang der Sechzig. 3 Es ist sehr scheusslich, wie kalt mich Todesfälle lassen – und wie schöne Condolenzbriefe ich schreibe. Ein Brief von Georg bedeutet für mich nur noch die Frage: wird eine Geldankündigung darin sein?
Schade, dass mir die Zeit zu Notizen über die Vorleselektüre fehlt. Wenigstens ein paar Stichworte will ich hersetzen. Weitaus am bedeutendsten für mich die Erinnerungen der * Fanny Lehwald, um 1860 geschrieben. Das Verhältnis der Eltern (napoleonische Zeit und folgende) zum Deutschtum. Man möchte so gern untertauchen, im Deutsch- und Christentum, fühlt sich bildungsmässig deutsch, sieht sich aber doch zurückgestossen, hat für Frankreich viel übrig und setzt sich doch für Deutschland ein. Fanny L. selber, ungetauft, 4 empfindet sich ganz als Deutsche, schildert * Börne 5 als den nationalen Deutschen, sieht in * Auerbach den deutschen Autor. Dieses Eindringen der Juden ins Deutschtum, ihre Rolle im Liberalismus, im jungen Deutschland ist vom heutigen Zustand aus gesehen erschütternd. Wenn es doch einmal werden sollte, dass ich meine Vita schreibe, dann werde ich mich der Lehwald zu erinnern haben, auch ihres * Vaters und seiner halb deutschen, halb alttestamentarischen Ansichten. – Dann ist i[ n ]n dem Buch so interessant die beginnende Frauenemancipation – etwas von den Zuständen, die F. L. schildert (der unschickliche Frauenberuf, die alte Jungfer) habe ich noch im eignen Elternhaus a[ n ]m Schicksal * der * * Schwestern erlebt ... Dann das Postkutschenreisen, der piccolo mondo. Dann die beginnende vierziger Bewegung, die Rede * Friedrich Wilhelms IV. 6 in Königsberg, der alte König * Fr. W. III, 7 das liberale Königsberg. Merkwürdig ihre Sympathie für die Burschenschafter und halbwegs für die Mucker. – Das Dominieren der französischen Literatur, ihre Stellung zur * George Sand 8 (und * Hahn-Hahn 9 III 306 sq) – Der zwangsweise Klavierunterricht, die Taufe der Brüder, Berlin, Breslau ...
Diese Memoiren fesselten mich (uns beide) wesentlich mehr als * Holteis Vierzig Jahre, so anmutig und humorvoll sie geschrieben sind. Über die eigentliche Jugend, den ersten der beiden Grubebände, sind wir nicht hinausgekommen; nachher herrscht allzusehr die Theaterspezialgeschichte vor. Wesentlich: der Freiwillige von 1815, der NICHT an die Front kommt, auch nicht so übermässig kriegsbegeistert ist, der Burschenschafter, der für die fromme Burschenschaft im Grunde nichts übrig hat, der junge Mensch, der als ganz zurückgeblieben ausgelacht wird, weil er eine Übersetzung der * Henriade 1 beginnt, die groteske Gestalt der halbnärrischen Pflegemutter, die komische Pensionatserinnerung an den * Freiherrn von Gaudy im Ordensmantel (d.h. mit dem Laken, das er zum Zeichen seiner Kleinjungenversündigung beim Frühstück um die Schultern tragen muss).
29. Oktober.
Von einem sechsbändigen englisch-kanadischen Roman: * Mazo de la Roche (Frau?) Jalna 2 sind zwei Bände deutsch erschienen: Die Familie in Zusammenhang und Zwist auf dem Landgut, die hundertjährige ungeheuer vitale und dominierende Grossmutter, die Geschwister und Halbgeschwister, Landwirtschaft und Kunst, Liebes- und Eheirrungen, Landschaft, Hinüberspielen nach New-York – alles ungeheuer lebensvoll, auch grotesk, auch wahrhaftig humoristisch, prachtvolles [C]harakterisieren: der werdende menschliche Künstler, der absolute sonst charakterlose Artist, der kleine
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