Klemperer, Viktor
der Regierung, von völlig ablehnender Haltung der Engländer im Punkte der Kolonieen (er las aus dem Economist 1 vor) ... G.s erzählten auch, dass * Stepun mit ganz geringer Pension entlassen sei – so hat ihm das Liebäugeln mit der Regierung doch nichts geholfen –, und dass in München * Vossler, eben 65 Jahre alt, zur Ruhe gesetzt worden. (Seit er * Auerbachs Istanbulcandidatur offenbar begünstigt hat, bin ich ausser Verbindung mit ihm.)
* Holteis Vierzig Jahre liessen zwei eigene Vitabilder in mir aufsteigen (nicht zum erstenmal). 1) wie mich der * Rechenlehrer Bremiker prügelte, weil ich die Stiefel für die Turnstunde aufgeschnürt hätte, und dabei besass i[ i ]ch doch gar keine Turnschuhe! 2) wie ich vor etwa zehn Jahren * Tagore 2 hier auf dem Banhof WANDELN sah, prophetenhaft und abgeklärt, die Hände auf dem Rücken, orientalisch gekleidet und die Hände auf dem Rücken trugen einen Ullsteinband. Das fiel mir komischerweise bei dem Strafwandeln des kleinen * Freiherrn von Gaudy 3 im verunreinigten Bettlaken ein.
Ein Wohnungsguaio 4 der letzten Zeit ist nachzutragen. Hinter den Schränken im Esskeller, die an * Annemarie verkloppt wurden, standen ein Dutzend Kisten mit ungebrauchtem Porzellan. Als die Schränke fortgeschafft wurden, begann es aus den Kisten immer stärker zu stinken. Schliesslich musste * [L]ange vorige Woche die schweren Dinge auseinanderstellen: Furchtbare Verpilzung aussen, einige innen durch verfaultes und zerfallenes Zeitungspapier grässlich zugerichtet. Nach Reinigung wurden die erhaltenen Stücke in den Wintergarten und auf den Boden geschafft; zwei Kisten mussten ganz ausgepackt und vernichtet werden, ihr Inhalt – traurig an bessere Zeiten gemahnend, Sektgläser dabei! – beengt noch das Badezimmer. Unabsehbar, wann unser Haus einmal normal aussehen und durchweg im Gebrauch sein wird.
Die Zeitung ganz voll vom * Mussolinibesuch. 5 Welch ein superlativisches In-den-Arsch-Kriechen! Allgemeine Maxime: Schwerst[e] und unvermeidliche Klippe der Reklame ist der Superlativ. – Zur Sprache: Zur Ausschmückung der Berliner Feststrassen werden vierzigtausend Meter Fahnentuch verwendet. (Weil wir so reich an Stoff sind) ... In der * Familie Holldack ist die Gesinnungstüchtigkeit erblich. * Der Vater, mein Kollege, macht in Antisemitismus und Teutschtum, bis er als Nicht = Arier gehen musste; s[ei]n * Sohn, Dr. Heinz Holldack, durch jüdische * Grossmutter in Deutschland selber unmöglich, macht als italienischer Correspondent in Fascismus und schreibt heute grosse Töne über Faschismus und Drittes Reich.
In den letzten Wochen zwei sehr hübsche Filmabende. Mississippi-Melodie, 6 durchdringend amerikanisch in Musik, Tanz, Humor, Prügelei, Tabakkau Gummikauen; Die Stimme des Herzens, 7 * Gigli-Film, durchdringend italienisch im Gesang.
Ich begann heute die furchtbar langweilige * Morelly-Lektüre.
Wer macht Geschichte Wer macht Geschichte? Wer erkennt den wahren Ablauf? * Holtei in den vierzig Jahren schildert die allgemeine und die eigene Stimmung in Breslau. 1806, 1812 und 13.
Man ist Patriot, man ist franzosenfreundlich und * Napoleonbegeistert, beide Parteien sind vorhanden, beides wechselt im selben Menschen. Man ist zuversichtlich, man hat gleich gewusst, dass es schief gehen wird, man stellt sich als Freiwilliger, man flieht – das alles geht durcheinander. Man fühlt deutsch, und man fühlt preussisch und hessisch und hasst die Hessen mehr als die Franzosen. Und heute sind es die Befreiungskriege und das Werden des Nationalgefühls. Wer hat das gemacht? Wer im Wirken für eine, für seine bestimmte Idee hat DAS gewollt, was daraus wurde? Welcher Miterlebende hat die Dinge in ihrem Zusammenhang gesehen? Welcher Spätere hat sie nachträglich richtig gedeutet? Für mich bedeuten heute die Befreiungskriege das Ende des eigentlich deutsch humanen Denkens, den Beginn der Ver e engung ... * Hitler soll in Nürnberg gesagt haben, es sei vielleicht notwendig gewesen, dass wir den Weltkrieg verloren, denn sonst hätte der Nationalsocialismus nicht entstehen können.
26. 9. Sonntag.
Bei sehr schönem, milden, stark verschleiertem Herbstwetter zur Talsperre vor Frauenstein, dort eine ganze Stunde zwischen Wald und Wasser sp[a]zieren gegangen und – gestanden, dann den gleichen Weg zurück und um 6 mit letztem Tageslicht zu Haus. – Im übrigen * Morelly, Bedrücktheit und Hoffnung auf langes und ablenkendes * Holtei-Vorlesen. (Die Länge hängt vom
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