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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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an Frau und Kind und gibt die Kasse her, er ist entehrt, und die Frau fühlt sich auch in ihrer Ehre getroffen, und er setzt Jahre danach seine Existenz aufs Spiel, um den Scheinhelden von damals in analoger Situation der Feigheit zu überführen. Es ist eine melancholische Tragikomödie. Aber die bedeutendste und bewundernswürdigste Sache dieser letzten Wochen ist das Amerika-, genauer Bostonbuch: Der seilige Mr. Apley von * John P. Marquand. 3 Da ich Stunden und Stunden vorlas bei gänzlichem Stocken meiner Arbeit, bringe ich den grossen Roman nach zwei drei Tagen schon heute zu Ende. Ich werde noch ein paar Zeilen über ihn zu sagen haben.
     

 
    28. November, Sonntag.
    Vorgestern eine Rede von * Göbbels : Wir haben die Juden ausgemerzt, und unsere Zeitungen erscheinen in besserer AUFMACHUNG als zuvor! Spottet seiner selbst, ohne es zu ahnen ... Gestern ein frappantes Beispiel dieser Aufmachung: Riesenschlagzeile, Berlins Neugestaltung beginnt[] (nämlich durch die Grundsteinlegung zur wehrtechnischen Fakultät an der Charlottenburger Hochschule), und klein darunter mitgeteilt und nachher irgendwo im Text des Blattes versteckt, dass * Schacht das Wirtschaftsministerium abgegebe[n] hat, an einen nationalsoz. Journalisten a[bg]egeben. 4 Aber es wäre immerhin möglich, dass spätere Geschicht[s]schreibung diesen kleinen Punkt als Anfang vom Ende bezeichnen könnte. Nur: wieviele Jahre trennen diesen Anfang vom endgiltigen Schluss?
    Sehr lange kann ich nicht mehr warten. Ich merke am völligen Versiegen meiner Arbeits- und Entschlusskraft, wie sehr ich zermürbt bin. Seit Wochen lese ich jetzt über den englischen Einfluss ( * Thomson, 5 * Ossian 6 etc., etc.[)], kann mir nicht genug heranschleppen, zögere immer wieder, schreibe keine Zeile. Alles Zutrauen zu meiner Arbeit ist hin, ich beschäftige mich nur eben noch u. bringe meine Zeit hin. Es kommt übrigens gar nicht so viel davon auf das Buch, glücklicherweise vielleicht. Tageslauf: Aufstehen um 7 bei Dunkelheit, der Ofen, Frühstückmachen, keine Zeit zum Abbrausen. * Eva liegt noch immer den halben Vormittag. Wenn ich sie und mich versorgt habe, lese ich bis gegen elf vor. Dann steht sie auf, und ich bin so müde, dass ich für 20 bis dreissig Minuten einsc[h]lafe. Von rund ½ 12–½ 2 sitze ich nun mit ungezählten Cigarillos an der Studienlektüre. Dann mache ich mich fertig, dann mache ich den Kaffee, dann räume ich ab, dann bin ich wieder totmüde, gehe wieder auf die Matte, und dann kommen ebe[n] nochmal zwei Arbeitsstunden, sofern wir nicht in die Stadt fahren, oder ich nicht mit Herzbeschwerden den Park hinunter- und hinaufschleiche, um Einkäufe zu machen. Nach dem Abendbrod legt sich Eva gleich hin, ich lese vor, fülle den Ofen auf, lese wieder vor, bis sie einschläft, schmökere bis ½ 12 für mich und gehe schlafen. Auch wird der Kater versorgt, und meist findet sich auch noch draussen irgend ein hungriges Katzentier an.
    Die letzen vierzehn Tage las ich den Riesenroman von * Margaret Mitchell Vom Winde verweht, 7 über tausend Seiten. Ein ungeheures Kunstwerk. Der Krieg zwischen Nord und Süd, 1861/65 von der Südseite her gesehen als Vernichtung einer höheren Kultur. Alles Licht bei den humanen Sklavenhaltern, aller Schatten bei den Yankees. Ich könnte viele Seiten über den kulturgeschichtlichen und den psychologischen Gehalt, den Humor, die grausame Tragikomik des Ganzen schreiben, über seine epische Technik und seine Balladenelemente, über seine Bezüge auf das Heute und lasse natürlich alles ungeschrieben und starre nur immer auf mein dixhuitieme, von dem ich nicht los- und in dem ich nicht weiterkomme. Es hat mich fast Überwindung gekostet, gleich eine neue Vorleserei zu beginnen. Ich wünschte, der * Mitchellroman hätte noch weitere tausend Seiten.
    Manchmal in den letzten Wochen, an Sonntagen haben wir kleinere Fahrten über Mittag gemacht, mit Vorliebe Edle Krone (wo * Eva zu Essen bekommt), Dippoldiswalde (der schöne Blick von der Höhe auf den Ort) und über die grosse Strasse zurück. Es ist Winter geworden, und nichts daran ist erfreulich.
    Die halb- bis dreiviertel verrückte * Frau Stettenheim ist wieder hier aufgetaucht, und wir können dem peinigenden Verkehr mit ihr nicht entgehen. Wir hatten sie schon einen schrecklichen Abend hier und werden um andere gleich grässliche nicht herumkommen ... Bisweilen lässt sich * Annemarie sehen. Sonst niemand mehr.
    Vor zi[e]mlich vielen Wochen zwei inhaltlich halbgute, dem

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