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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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aber darin wohnen werden wir! ... Und in Russland wird sooviel gehungert und gemordet – bei uns fliesst doch weniger Blut ... So denken bestimmt 99 unter hundert. Und die Intelligenz und die Wissenschaft prostituiert sich.
    Der Parteitag ist in allem ein Abklatsch des vorigen. Der Amerikanismus der Sprache hat sich noch mehr verstärkt. Rede des * Presseleiters 1 : Der völkische Beobachter baut das grösste Verlagshaus der Welt[]; die Säule der von der gesamten deutschen Presse erzielten Tagesauflagen würde mit 20 km. in die Stratosphäre reichen, 70 % davon sind Parteiblätter – und das Ausland lügt vom Niedergang unserer Presse .. Und der * Führer warnt und beschützt Europa vor dem jüdisch-bolschewistischen Weltfeind.
     

 
    20. September, Montag Abend
    * Prévost– * Aissé 2 in der Maschine, noch zwei, drei Tage Correktur, und es kann weitergehen; aber der Mut sinkt immer tiefer, wie sich die Ms.blätter aufspeichern. Im Grunde ist das Ganze Selbstbetrug und Zeittotschlag. In der gegenwärtigen Situation finde ich rein gar nichts, woran sich die Hoffnung auf einen Umschlag stützen liesse. * Hitlers Rede in Nürnberg vor der moralisch und geistig minderwertigen jüdischen Rasse – so dick mein Fell allmählich geworden, und so wahnsinnig der Vorwurf (und die Behauptung des rein jüdischen Bolschewismus[)] ist, es peinigt mich doch, den Rest meines Lebens hier verbringen zu müssen. Und ich bin immer überzeugter, das H. wahrhaftig der Sprecher so ziemlich aller Deutschen ist.
     

 
    24. September 37, Freitag.
    Scheussliches Herbstwetter, scheussliche Depression in allen Punkten, und dabei Fortwursteln.
    * Prévost abgelegt bis auf die Anmerkung; ich gedenke heute an * Morelly 3 zu gehen. In den letzten Tagen Verzögerung durch vieles Vorlesen, da * Eva, sehr herunter, viel zu Bett liegt. ( * Zahnarzt ist jetzt abgestoppt und auf unbestimmte Zeit verschoben – aber die in jeder Hinsicht greuliche Affaire des grösseren Eingriffs und des vielleicht nutzlosen Ersatzes liegt eben vor und auf uns.) Ich las und lese * Holtei, erst die Vagabunden, jetzt die Vierzig Jahre. 4 Sehr interessant und lehrreich – aber wo hätte ich Gelegenheit der Ausnutzung?
    Ein paar hübsche Fahrten, aber es wird zu früh dunkel, die Lampen strengen an. Auch kostet (währendes Praesens!) der Wagen neuerdings Reparatur über Reparatur; ständig sind wir bei * Wolf, oder er arbeitet hier. (Kuppelung, Wasserpumpe, Kotflügel, hängende Thüren). Ein Ersatz für den verstorbenen Reifen noch immer nicht aufgetrieben – Gumminot ein Teil der allgemeinen Materialnot, signum temporis.
    Am 16. zur Siebenlehner Autobahnbrücke, am 26. ein Weilchen 5 im wunderschönen Pillnitzer Schlosspark. Diese kleinen Ausflüge, auf denen auch ein bisschen zu Fuss gegangen und die Gegend sachter und detaillierter betrachtet wird, haben ihren besonderen Reiz u. ihre Sonderstellung zwischen Stadtfahrt u. Reise oder Tour.
    Eine etwas längere Fahrt ging letzten Sonntag Nachmittag nach Pirna, Stolpen (mit der merkwürdig dunklen Burg) und Neustadt durch den prachtvollen hochgelegenen Wald, den wir auf der Rückkehr vom Riesengebirge durchfahren (aber da in tiefer Nacht), dann über Bischofswerda auf grosser Strasse zurück. Die Fahrt war schön, zuletzt aber vom Weissen Hirsch an in Dunkelheit und Blendung allzu anstrengend, und schliesslich gerieten wir im Restaurant des Hauptbahnhofs in ein gräßliches Sonntagstreiben und kamen total zerschlagen nach Haus. Bei alledem ist der Wagen immer noch das Tröstlichste für uns. (In Pirna hatten wir * Annemarie abholen wollen; als niemand auf erstes Klingeln öffnete, ging ich weg; wer weiss, ob ich sie nicht in Verlegenheit gesetzt hätte, wenn irgendwer bei ihr war. Immer das scheussliche Gefühl der Aussätzigkeit.)
     

 
    25. Sept. 37, Sonnabend.
    Nach monatelanger Pause gestern bei * Frau Schaps (inzwischen 70 geworden, und immer noch dem Wesen und Aussehen nach allerhöchstens 60) und dort mit * * Gerstles zusammen. Deren Stimmung und Urteil ist mir immer recht wertvoll als Gruppenausdruck. Im ganzen war ich nicht unzufrieden. 1) ist es auch ihnen inzwischen aufgegangen, dass sie den Bolschewismus nicht mehr zu fürchten haben, weil er schon vorhanden ist (G. sagt, die bolsch. Richtung innerhalb der NSDAP nehme andauernd zu, 2) rechnet G. bei allem Pessimismus dennoch mit keiner allzulangen Regimedauer mehr, 3) erzählt er von schwerer Unzufriedenheit der Arbeiter, von grosser finanzieller Not

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