Klemperer, Viktor
herausbringen. – Das Stück selber ist Kitsch, aber ganz amüsanter und gutgespielter. Im Prolog 1890 ist sie ein Zigeunermädchen und heiratet einen irischen Lord; danach gibt sie die Urenkelin, eine ganz junge spanische Herzogin, zumeist in Jungenrolle. Die Urgrossmutter braucht Geld zur Verheiratung der Urenkelin, die dann einen andern und den wahren Geliebten kriegt; also muss Wing[s] of the Morning 3 das Derby gewinnen – das gibt hübsche Scenen und echte Aufnahmen.
* Evas Zustand nach wie vor ein sehr unerfreulicher, die Politik stagnierend und trostlos, die Zeitung täglich zum Kotzen – heute wieder ein Rasseschänderprozeß: zehn Jahre Zuchthaus für einen Hamburger Rechtsanwalt von 56 Jahren. Die Berichterstattung darüber stinkt förmlich nach ekelerregender Lüge.
Ich bin schwer deprimiert, da ich auf keine Weise die Weiterdisposition meines Buches find[e]. Immer häufiger halte ich die Grundanordnung für undurchführbar und zweifle am Eigenwert des Ganzen. Ich will jetzt für eine Weile das Suchen aufgeben und stur am Kapitelchen * Gessner 4 arbeiten.
11. Nov., Donnerstag.
Der Abschnitt * Gessner – * Werther 5 ist im Ms. fertig, Bibliotheksvorbereitung für die anschliessenden Engländer getroffen oder angebahnt. Aber alles geht unendlich langsam und lustlos vor sich. Einmal werde ich durch * E.s fortgesetzt bösen Zustand – zum Rheuma ist nun noch eine Zahnaffaire, Wurzelhaut oder Abscess getreten – halbe und ganze Tage mit Vorlesen in Anspruch genommen, sodann ist mir die Weiterführung des Bandes unklar, die Grundidee, auf der alles ruht (die Möglichkeit einer Trennung zwischen sensibilité 6 und * Rousseauismus) zweifelhaft und der Sinn und Wert der ganzen Arbeit mehr als zweifelhaft. Ich muddele weiter, um über die Zeit und den Lebensrest zu kommen – mein Opus hat wohl 1933 mit dem * Corneille 7 seinen Abschluss gefunden. Mir wurde das heute betrüblich klar durch einen Doppelbrief: ich hatte * Hatzfeld um das Erstdatum der * Alpen 8 en France angefragt, er die Frage an * Van Thieghem 9 weitergegeben, der aus Paris freundlich und ausführlich Auskunft gibt in der Meinung, ich schriebe eine Spezialstudie im Sinn der Comparatisten. 10 * Hatzfeld, der immer eine grosse ehrlich katholische Frömmigkeit mit sehr viel Weltsinn verbindet, rät mir Tieghemhöflich zu danken, da er vielleicht ein Stück meines Buches, wenn nicht gar das ganze, in einer seiner Publikationen unterbringen könnte. Dabei fiel mir wieder auf die Seele: was sollte dieser gelehrte Spezialist mit meinem Opus anfangen? Es ist ja nicht Forschung, für ihn und seinesgleichen ist es kein gelehrtes Werk. Und für die Allgemeinheit ist es viel zu gelehrt. Aussichtslos also überall.
In Politicis immer das gleiche, fortdauernder Triumph der nationalsozialistischen Sache, innen und aussen. Es ist als wäre die übrige Welt gelähmt. – In München die Ausstellung Der ewige Jude, vom jüdischen Blutritus berichtend.
Die viele Vorleserei. Durch eine Äusserung * Annemarie Köhlers liess ich mich verleiten, einen deutschen Roman zu wählen, der übrigens vor dem Umbruch 1931 erschien und der Gesinnung nach gar nicht nazistisch ist: []Montijo von * Otto Flake. 11 Ichroman eines Halbdeutschen auf der Suche nach der Nation, ein paar Jahre vor dem Krieg, der Krieg in der Etappe und in der Schweiz, die Zeiten bis zu * Stresemanns Regierung. 1 Ein paar gute Schilderungen, innerlich aber gar keine Entwicklung. Der Held, in ein Dutzend Liebesaffairen verwickelt, coitiert und philosophiert, über DAS Weib und dDEN DEN Mann, über Individualismus, Form usw. und kom[m]t sich klassisch und menschlich vor. Wir waren beide nach einiger Zeit zugleich gelangweilt und abgestossen. Das ist Pseudoklassik, ist pret[i]öses und im Kern lüsternes Gerede ist Aesthetentum. Das schliesst nicht, sondern hört grundlos auf. Das ist nicht erzählt. Dagegen die Engländer, die Amerikaner und die Skandinavier! Diese letzten überlasse ich meist * Eva zur Alleinlektüre, um mich nicht allzusehr zu zersplittern. Aber neulich geriet ich an einen Norweger, * Sigurd Christiansen: []Zwei Lebende und ein Toter. 2 Eine ganz einfach erzählte Kriminalgeschichte von einem Postraub und seiner späten Aufklärung. Aber wieviel Menschlichkeit, wieviel Psychologie, welch ein völliges Zusammengehen von Simplizität und Tiefe. Es ist das Problem der Angst: die Räuber morden aus Angst, der scheinbare Held wehrt sich aus Angst, der zweite Überlebende denkt
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