Klemperer, Viktor
Spiel nach ausgezeichnete Filme: Die Warschauer Zitadelle 1 und Zu neuen Ufern 2 ( * Zarah Leander).
Immer wieder intriguieren mich Gedanken an meine Vita. Sie wird ungeschrieben bleiben.
28. Dezember, Dienstag.
Am 24. kam nach mehreren Frosttagen plötzlich Tauwetter. So fuhren wir wie im Vorjahr nach Wilsdruf[f], einen lebenden Baum kaufen, der dann hier eingesetzt werden soll, ebenso wie der vorjährige. Um 12 in der Gärtnerei keine Seele, wir sassen bis eins im Weissen Adler, um 1 wieder niemand in der Gärtnerei. Ich holte den uns bekannten inzwischen pensionierten alten * Obergärtner Weber, er grub uns wirklich einen Baum aus. So hatten wir Abends ein ganz erträgliches Weihnachten; * Eva hat ein Fenster für den Esskeller bekommen, wir tranken ein kleines Fläschchen Schnaps und fühlten uns ganz passabel. Am ersten Feiertag bei ununterbrochen strömendem Regen zu Haus, jeder bei seiner Arbeit. E. malt das Musikzimmer aus, ich corrigiere den Abschnitt Antike Elemente. Abends den wildesten * Wallace vorgelesen, 3 den Rächer (der irrsinnige Guillotinenmörder). Am zweiten Feiertag die schöne Strasse links der Elbe nach Meissen gefahren. – Ich hatte diese Tage sehr gefürchtet, denn es geht uns sehr schlecht. Die Geldsorgen sind wieder besonders drückend, wir rechnen mit dem Pfennig, wir können die Lebensversicherung nicht mehr halten. Und die Hoffnung auf politische Änderung ist kaum noch Hoffnung.
Es gab uns einen besonderen Stoss, dass nun auch * * Gerstle- * * Salzburgs 4 auswandern. Die Fabrik Webers Kaffeegewürz wurde an Kathreiner verkauft. G. hat sie von seinem Vater geerbt und 28 Jahre lang geleitet, er hat den Krieg als Offizier mitgemacht. Aus dem aufgelösten Haushalt bekamen wir viele Blumen (wie von * * Blumenfelds und * Isakowitz), darunter einen ungeheuren Gummibaum. Bücher hätte ich zu hunderten haben können, ich nahm nicht viele, es modert ja bei mir schon so vielerlei, teils in Kisten, teils auch auf den Regalen, da ja mit der Bedienung die gründliche Reinigung fehlt. Ein hübscher alter Windhund, den Gs selber schon von Auswandernden übernommen hatten, wird vergiftet. G.s bleiben wohl auch nach dem ungeheuren Verlust der Auflösung, Fluchtsteuer etc. reich. Sie gehen nach England auf den Umweg über eine Weltreise. Auf dieser Reise begleitet sie * Frau Schaps, die Siebzigjährige, die dann hierher zurückkehren will. Sie bleibt dann ganz allein. – G. gab mir die Adresse eines Londoner * Bankiers Bachrach, der für mich interessiert sei; ich schrieb ihm den Brief, dessen Copie hier beiliegt. 5 Aber ich werde nicht fortkommen, und es ist auch sicher gegen * E.s innersten Willen hier herauszugehen – (s. den eingepflanzten Weihnachtsbaum, das neue Fenster, das gemalte Musikzimmer ..) – wir graben uns hier ein und gehen hier zugrunde.
Die Einsamkeit wird immer lastender. Aus Berlin muss * Berthold Meyerhof fort. * Johannes Köhler hat mir weder zum Geburtstag noch zu Weihnacht (wie sonst seit Jahren immer) gratuliert.
Unter all dem Druck schleicht die Arbeit immer langsamer. Daran ist freilich wohl auch das Alter schuld: die Unbekümmertheit fehlt, ich studiere und studiere, Monate oft, um ein Dutzend Seiten zu schreiben. In diesem ganzen Jahr sind genau 95 Maschinenseiten fertig geworden: * Rousseau, Cap V – Antike Elemente. Aber das Alter allein ist es nicht, der Ansporn von aussen fehlt, das Nur-für-sich-allein-schreiben ist so deprimierend.
Auch hat * Evas vieles Liegen dazu geführt, dass ich in den letzten Monaten nicht nur Abends sondern auch Vormittags vorlas. Gott, wievieles! Zwei Engländer, * Irving Der stolze Vasall 1 und * Hugh Walpole Herries der Vagant 2 gefielen uns so wenig, dass wir nach ein paar Capiteln jedesmal aufhörten (pretiös, gemacht, sozusagen historische Atelieraufnahmen). * Doris Leslie Die Frauen von Wroth 3 hat nicht den Zug ihrer Catherine Ducrox, ist aber doch in vielem recht gut. Sehr interessant der Amerikaner * T. S. Stribling Colonel Vaiden (the Store), 4 gewissermassen eine detaillierende Fortsetzung der * Mitchell, aber nüchterner, weniger allgemein menschlich, nicht tragisch sondern bedrücklich und ohne Schluss. Zuletzt wiegesagt aus dem * Gerstlebestand der * Wallace. (Im übrigen habe ich von dort sehr viel * Bismarckliteratur, * Zieglers Geistige und soziale Strömungen im 19. Jh., 5 etliche * Heinrich Mann, einen * Schalom Asch, 6 einen Band * Ossian und die * Erwiderung der Diözese Köln gegen * Rosenberg 7
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