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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Volk und Intellektuelle, sondern in der Seele aller Einzelnen: die Schicht Volk, das Instinktive und Suggestionshörige, von der Denkschicht. Ich setze jetzt hinzu: die Erziehung im dritten Reich und die Sprache des 3. R.s bezwecken, die Volksschicht in allen derart auszudehnen, dass sie die Denkschicht erstickt. (Feste, Versammlungen, Presse, nationale Emotionen, Stürmer etc. etc.[)]
    Am letzten Mittwoch ein amüsant toller Abenteurerfilm: Der unmögliche Herr Pitt. 3 Ich dachte immer, * Harry Piel 4 sei nur Cirkuskünstler und Wildwestmann, aber er ist ein wirklicher Schauspieler und ein Regisseur. Wir hatten einen sehr vergnügten Abend. Ein bisschen Zähmung der Widerspänstigen, die hier eine verwöhnte Millionenerbin und Yachtbesitzerin ist. Piel der scheinbare Ver- und Ausbrecher, sehr witzige Situationen in Oran, auf der gekaperten Yacht etc. Auch die Mitspieler gut. * Hilde Weissner 5 als Partnerin, * Willy Schur als tätowierter Hamburger Seemann, der Fremdenlegionär war und geflohen ist.
    Langsames Weitervorlesen von * Krieg und Frieden 6 . Alles Einzelne ungeheuer lebendig und fesselnd, aber das Ganze lässt kalt. Es fehlt die unité: kein centraler Held, keine centrale Idee – alles könnte für sich stehen, eine ungeheure Samlung von Einzelscenen und -schicksalen. Wenigstens bisher, d.h. bis in den Anfang des zweiten Bandes.
    Übermorgen hoffe ich mit der Massenlektüre zum kleinen Capitel Tragoedie fertig zu werden. Aber wie dann weiter? Ich werde mit diesem Abschnitt das 3. Buch schliessen und das vierte, als centrale, das dritte als Randliteratur bezeichnen. Aber die Anordnung dieses vierten Buches?? Sie ist noch sehr schleierhaft.
     

 
    25. Mai 38, Mittwoch
     
    Am Montag ein kulturhistorischer Amerikafilm Frisco-Express 1 : die [e]rsten Postverbindungen nach dem Westen um 1840, die Erschliessung bis über den Bürgerkrieg hinaus. Hübsche Bilder und Scenen, nicht mehr sehr originell. Eine langjährige Liebe[s]geschichte mit Conflikt durch den Bürgerkrieg im Centrum. Fahrt- und Kampfbilder.
    Der Tschecheiconflikt geht weiter, alle Tage werden WIR provoziert, sind wir friedliebend, hetzt und lügt alle Welt gegen uns, inbesondere England. Ich warte seit fünf Jahren – aber da die deutsche Bluffrechnung bis jetzt so oft geklappt hat, wird sie ja wohl auch jetzt wieder stimmen.
    Neulich der * Gärtner Heckmann und heute der * Kaufmann Vogel ganz übereinstimmend: Ich weiss gar nicht, was vorgeht, ich lese keine Zeitung. Die Leute sind vollkommen abgestumpft und gleichgiltig. Vogel sagte noch: Es kommt mir immer alles wie Kino vor. Man nimmt eben alles für theatralische Mache, nimmt nichts ernst und wird sehr verwundert sein, wenn einmal aus dem Theater blutige Wirklichkeit wird.
     

 
    1. Juni 38, Mittwoch.
     
    Bei der Grundsteinlegung zum Volkswagenwerk (der Wagen für 990 M.) sagte der * Führer, die Nationalökonomie habe früher nicht bedacht, dass in einem Volk, dem es an reichlicher Produktion der Lebensmittel fehle, nicht alles Geld für Lebensmittel aufgewandt werden dürfe. So ist das panem et circenses 2 übertroffen: Pro pane circenses. 3 Des jeux et non du pain 4 (frei nach: Du sang et non des lois 5 ).
    Himmelfahrt (26. 5.) fuhren wir die herrliche Strecke nach Zinnwald hinauf, ob es an der Grenze irgendwie kriegerisch aussähe. Alles lag im tiefsten Frieden, nur hatte man auf der tschechischen Seite rechts und links vom Schlagbaum Betonmäuerchen errichtet. Auf dem Rückweg assen wir in dem kleinen Dorfgasthaus in Naundorf. Seit wir * Frau Lehmann ganz entbehren, sind wir bestrebt, das Kochen und jämmerliche Abwaschen einzuschränken und billige Gasthäuser aufzuspüren.
    Am 29. fuhren wir nach Grüngräbchen (bei Schwepnitz), wo unsere Rhododendren herstammen, und das wir vor etwa zehn Jahren einmal mit * Frau Stark 6 in deren Auto besucht haben. Der Reichtum der Dresdener Umgebung ist immer wieder erstaunlich und immer wieder sind wir unserm Bock dankbar, obwohl seine Altersleiden von Woche zu Woche zunehmen: der Kühler kocht, die Kolben klappern, beim Langsamfahren bleibt er stehen usw. usw. Da es spät geworden, warfen wir nur ein paar Randblicke auf die * Seidelschen Anlagen 7 und beschlossen, in den nächsten Tagen noch einmal hinzufahren. Diesmal ( * Evas Rat auf analoge Berliner Erinnerungen vorehelicher Zeit zurückgehend) assen wir besonders gut und billig im Restaurant der Grossmarkthalle. Am Sonntag Abend war es dort sehr still. Der Kellner erzählte, Wochentags

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