Klemperer, Viktor
finge man um 4 Uhr morgens an, den von ausserhalb kommenden Gärtnern Frü[h]stück zu servieren. – In den Dorfgasthäusern reicht einem der Wirt patriachalisch die Hand. Aber überall spielt und berichtet und agitiert das Radio und uniformiert die Geister.
Am 30. Abends im Capitol Die Perlen der Krone[] 8 ( * Sascha Guitry 9 und * Jacqueline Delubac 10 ). Der Film hat witzige Scenen, aber er ist nicht gut. Alles nur Einzelscenen, die Einheit fehlt, man jagt durch Geschichte, Abenteuer, Länder, von * Franz I. 11 und dem englischen * Blaubartkönig 12 zu * Napoleon I und * III, man haftet nirgends. Übrigens ist der Wechsel von französischer, englischer und italienischer Sprache ein Genuss nur für Philologen. Das grosse Publikum kann unmöglich folgen, und die paar aufgeklebten deutschen Worte erklären das Wenigste. Mir haftet als Witzigstes die Wut des Papstes gegen den verliebten Nipote: Ti faccio Cardinal. 13 Wir kamen mehr ermüdet als befriedigt nach Haus und erfrischten uns durch ein paar Seiten * Krieg und Frieden.
Heute ein halb unfreiwilliger Ferientag. Vormittags hatte * E. beim * Zahnarzt zu tun (das letztemal am Tage des Österreicheinmarsches!). Bei schwerer Hitze sehr abgespannt zurück. So am Nachmittag erst bei * Heckmann an der Meissener Landstrasse, dann bei * Wolf in Freital, der dem Bock wiedermal ein wenig nachhelfen soll.
Es sieht aus, als wäre unser Leben eine Kette von Vergnügungen. In Wahrheit brüte ich eigentlich die meiste Zeit über dem Dix-huitieme – sofern ich nicht in der Küche zu tun habe. Das Capitelchen Tragödie nähert sich seinem Ende.
Eine Tragödie scheint mir hinter der Drucksache vom 26. Mai zu stecken: * Dr. med Dressel – * Katharina D, geb Roth: Vermählte. Wir hatten geglaubt, er werde * Annemarie Köhler heiraten, u. das war bestimmt auch ihre Meinung, als sie ihm – sie ihm – die Klinik einrichtete, die er leitete, während sie mehr die Rolle einer Oberin u. allenfalls Assistentin spielt. Wir haben seit Monaten nichts von ihr gehört. Ich habe längst die Meinung, daß sie etwas hörig u. er einigermaßen ludovizisch 14 gesinnt ist. –
Die Kriegsgefahr scheint vorüber, und Großdeutschland blüht fröhlich weiter.
16. Juni 38, Donnerstag.
Erst heute da[s] jämmerliche Capitelchen Tragoedie in Reinschrift mit allen Correkturen abgeschlossen; zuletzt hemmten mich die versagenden Augen sehr. Ich verliere immer mehr die Hoffnung, das Ende dieser Arbeit zu erleben. Und doch möchte ich so gern auch noch zu dem anderen Thema kommen. Bei * M.[-J.] Chénier 1 wurde es mir wieder so nahe gebracht. Neulich im Film: NACHWUCHS-Schauspieler; seit einigen Jahren schon im Sport: NACHWUCHS-Fahrer. Nicht mehr: ein Neuer oder die Jungen, sondern ein Wort der Tier- oder Pflanzenzüchtung, Denaturierung des Einzelnen zum Kettenglied, zum Massenatom, zum Zuchtobjekt. – Baueinsatz. – Mütter der Ostmark. – Bolschewistische HORDEN (sehr beliebtes Wort, ebenso wie Untermenschen).
In den Zeitungen wird als äusserste Lüge hingestellt, dass bei Dresden Truppenbewegungen gegen die Tschechei stattgefunden hätten. Von drei ganz verschiedenen Seiten ( * Wolf: Leute in der Kaserne eingekleidet, * Annemarie: die ganze Nacht Truppen durch Pirna, * Vogel: Tante berichtet wie Annemarie aus Rathen) hören wir das Gegenteil: Also weiss doch ganz Sachsen, wie es sich verhält, a) mit der Wahrheit und b) mit der Zeitung. Aber Vogel sagt, und das ist vox populi: Ach das ist alles bloss Kram, es kommt nichts. Man ist abgestumpft und hält alles für Kram.
Annemarie Köhler war vorgestern bei uns, ziemlich erbost gegen den verehelichten * Dressel und ziemlich selbstbewusst als finanzielle Herrin ihrer Klinik. D. hat eine frühere * Schwester des Heidenauer Krankenhauses geheiratet.
Sonst vollkommen einsam.
Viele Sorgen, Ausgaben, Hemmungen, Verärgerungen durch den Wagen, der Generalreparatur dringendst notwendig hätte, wenn man ihn dringendst braucht – so heute – tückischst versagt. Dabei auch wieder sehr hübsche Fahrten, einiges besonders wohlgelungen.
Pfingstsonntag, 5. VI. über Freiberg nach Annaberg, landschaftlich sehr schön, Gebirge doch wohl bedeutender, alles ausgedehnter und auch höher als in der Kipsdorfer Gegend, A. ziemlich bedeutende Stadt, der Fichtelberg sehr ernsthaft herausragend. Aber gerade dieser Gebirgsanstrengung noch dazu bei heissem Wetter war der Wagen schlecht gewachsen. Zurück über Chemnitz und von Frankenberg aus Autobahn.
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