Klemperer, Viktor
allgemeinen Grundriss einer Epoche scharf herausarbeiten; jetzt interessiert mich nur noch das Einzelne, das Besondere, das Complexe. Alle Welt sagt: die Tragoedie in der zweiten Jahrhunderthälfte: c'est du Voltaire. 5 Aber das Interessante an ihr ist gerade, wie sie da und dort doch eben nicht DU Voltaire ist.
Nur: welchen Zweck hat es diese Einzelheiten herauszuarbeiten? Für wen? * Vossler schickte mir neulich den dritten Teil seiner Poesie der Einsamkeit in Spanien[], Ausgabe der bayrischen Akademie der Wissenschaften. Auf der Rückseite stehen Arbeiten anderer Akademiker verzeichnet: Über die Bischofslisten der Synoden von Chalkedon, Nicaea u. Konstantinopel – Bitons Bau von Belagerungsmaschinen usw. usw., Dinge von denen ich nie etwas gehört habe. Wen interessiert das? Und inwiefern sollen * Saurin u. * Lemierre 6 usw. für andere Menschen interessanter sein als diese Sachen für mich? Vanitatum vanitas.
18. Mai, Mittwoch, 1938
BRESLAU-FAHRT, 15. u. 16. Mai, Sonntag/Montag, rund 600 km.
Bei grosser Hitze eine schwere Strapaze, bei immer wieder kochendem Kühler u. klapperndem Cylinder und unfreiwilligem Ritardo 1 oft eine Verzweiflung, landschaftlich im Grunde semper idem – und doch mit alledem so schön und anregend – das Leben der Landstrasse, die Dorfgasthäuser, die doch immer wieder wechselnde gleiche Landschaft, das Auftauchen der Städte mit ihren Kirchtürmen, vom Blick als Gesamtheit umfasst, das Fürsichsein, frei zu halten und zu fahren, die Sportleistung, das Gefühl der Gefahr und der Freiheit – wir kamen am Montag, um ½ 12 Nachts statt um 8 zurück nach schwerster Nachtfahrt im kurvenreichen Wald immer wieder behindert durch entgegenkommende Scheinwerfer, stundenlang in Angst, die überhitzte schluchzende Maschine könnte mitten im Wald versagen: und am Dienstag Morgen schmiedeten wir neue Pläne, mit Unterstützung des segensreichen Lotteriegewinns, falls wir es noch ohne Kolbenausschleifung (200 Mark!) wagen können, zum 29. Juni eine dreitägige Oberschlesienfahrt zu unternehmen. Weil es eben doch bei aller Anstrengung und allen ärgerlichen Momenten etwas Herrliches ist und vielleicht bei ganz tadellosem Wagen und grösserer Bequemlichkeit gar nicht so herrlich wäre wie jetzt.
Am Sonntag nach zehn Uhr Abfahrt. Die uns vertraute wundervolle Strecke Stolpen–Neustadt. Gleich hinter Neustadt im Bergwald kochte der Kühler das erstemal. Wir hielten also an der Hohwaldschenke (sehr schön im Walde mit Blick auf Wiesen und Waldstücke), und * E. bekam ihr Mittag und der Bock Wasser. Um 1 Uhr weiter. Bei dem nichtssagenden Dorfstädtchen Oppach verzeichnet die Karte irgendetwas als Katermauze. Der Name reizte. Ein Gehöft oder Dorf oder Gasthaus? Wir fanden nichts – vielleicht hat einmal ein Ortsteil so geheissen. Landschaftlich lag nun eigentlich das Schönste hinter uns. Bei Löbau mündeten wir in die grosse Landstrasse Dresden Breslau, die mit 259 km. Länge angegeben ist. Uns bekannt bis Görlitz. Die schöne Landeskrone. Von da an die unmittelbare Umgebung reizlos, aber in der Ferne zur Seite die stattliche Berglinie des Riesengebirges. Durch breite Schneehänge bedeutend, währen[d] wir durch grosse Hitze fuhren. Suche nach einer Kaffeerast. In Görlitz, das man scheusslich auf wirr geführten Strassen durchrasseln muss, nichts Verlockendes. Eine Stunde später in Bunzlau die zweite Enttäuschung. Ein gottverlassenes Nest. Auf dem aufgerissenen Markt ein übel aussehendes Hotel und Café. Toteinsam. An der Tür ein Schild Juden unerwünscht. Wir gingen zum Wagen zurück, fuhren ins Freie, assen einen Apfel, rauchten, fuhren weiter. Um vier in Haynau die Wonne. Ein hübsches kleines Städtchen, ein richtiges Caféhaus am Markt, nach hinten heraus ein Gärtchen, ein guter Mokka, ein guter Sahnenbaiser – sofort neues Leben in uns! Während wir uns dort erfrischten, auf der Strasse ein Krachen. Nichts Besonderes: nur ein Motorfahrer in ein Auto geraten, bloss ein Beinbruch und eine Kopfwunde, wir sahen nachher das Krankenauto – das übliche Memento. Weiter, sehr angeregt, immer um uns Jejend und zur Rechten Bergzüge. Der Bock lief ganz nett, wenn er nicht gerade kochte. Wir tankten fünfliterweise, um nur immer Wasser zu bekommen. Gegen Abend tauchte Liegnitz auf, sehr stattlich mit einer ganzen Reihe von Kirchtürmen. Hier kamen wir an die Reichsautostrasse, blieben aber auf der Landstrasse. Zum viertenmal des Wassers halber getankt und auf sehr guter
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