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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Strasse durch die Dämmerung weiter. Einmal sprudelte der Bock wie ein Walfisch, aber sonst hielt er sich brav. Annäherung der grossen Stadt, Autobusse, erste Trambahn. Um acht in Breslau. Sofort Eindruck einer wirklichen Grossstadt, mit breiten Strassen bedeutender als Dresden, obwohl um 50 000 Einwohner kleiner. Wir parkten hinter dem Opernhaus, gingen in die breite belebte Schweidnitze[r]strasse, assen in einem Bierrestaurant gut und liessen uns vom Kellner beraten. Er sagte: Christliches Hospiz in der Gartenstr. Wir gingen zu Fuss dorthin und fanden das Haus nicht. Wir sahen auf diese Weise ein Stück der belebten Hauptstrasse, kamen aber sehr müde zum Wagen zurück. Wir suchten dann noch einmal im Wagen. Jetzt fanden wir das Hospiz, aber es war uns zu teuer. Gegenüber ein kleines Hotel. Ein alter väterlicher Portier: besetzt, aber dichtbei in der Teichstr. sollten wir u[n]ter Berufung auf ihn in Brauers Hotel. Die Wirtin stand vor der Haustür, das Hotel lag im Gartenhaus, der Portier hatte Ausgang – aber alles machte keinen üblen Eindruck. Tatsächlich waren wir nachher in einem geräumigen Zimmer sehr gut für 5 M. aufgehoben und am Morgen bekamen wir in einem kleinen Laubengang bei einem kleinen Garten sehr nettes Frühstück serviert (um die Ecke lag der Hof mit der Müllgrube[)].
    Ehe wir den Tag um Mitternacht beschlossen, fuhren wir noch in ein Café Torwacht an der Schweidnitzer Str. und assen Eis. Wir hatten bis jetzt von Breslau gesehen: das Warenhaus Wertheim (Jetzt arisch!), ein paar sehr belebte Strassen[,] die gleichen Kinos wie in Dresden, die gleichen Anzeichen des dritten Reichs, der Gesamteindruck war bisher: elegant wie Dresden, aber dem Leben nach eher Leipzig[,] im übrigen DIE deutsche Grossstadt, genormt. Am Montag Vormittag die eigentliche Besichtigung, und das war bei grosser Hitze und starkem Verkehr und nachwirkender Ermüdung des Vortrags natürlich das Anstrengendste, sowohl zu Fuss wie auch im Wagen. Das wahrhaft Eigentümliche ist das Inselgewirr zwischen den Oderarmen. Alte Speicher, enge Strassen, friedliches Grün, an einem Inselzipfel ein paar Kähne, ein Heiligenstandbild an kleiner Brücke, der mächtige Dom, eine schönere spitztürmige Kirche dicht dabei .. Dann der Ziegelbau des Rathauses, die riesige Universität, ein bisschen an das Dresdener Schloss erinnernd, auch ähnlich gelagert zwischen Wasser und Stadt als breiter Riegel. Ein Renaissancebau. – Als Vierzehnjähriger auf meiner ersten Alleinfahrt von Charlottenbrunn kommend bin ich eine Stunde in Breslau gewesen. Meine einzige Erinnerung: die Chokolade auf der Liebighöhe, der imposante Kellner, dem ich kein Trinkgeld zu geben wagte. Seitdem hatte ich immer die Ideenverbindung: Breslau – Liebighöhe, hatte auch immer gehört, sie sei der schöne Punkt der Stadt. Als wir jetzt danach fragten, sagte die Wirtin verächtlich, das sei gar nichts mehr, übrigens für alte Herrschaften (WIR!) schwer zu ersteigen, jetzt sei die Attraktion Scheitnig mit der Jahrhunderthalle und der Messehalle und dem Stadion. Wir fuhren auf breiter Strasse ein paar Kilometer dort hinaus: das genormte Breslau. Eine übliche Messehalle, wie man sie in Leipzig sieht, ein grosser Rundbau als Jahrhunderthalle, neuer Vorortbau, eben genormte moderne deutsche Stadt, in der es Adolf Hitlerplatz und Horstwesselstrasse und Bauten im Wertheimstil des dritten Reiches gibt. Irgendwo begegneten wir auch einem Hochhaus. Das alles konnte ebensogut Leipzig oder irgendeine andere deutsche Stadt sein. Ganz zuletzt sahen wir dann doch noch von aussenher über einen Wasserstreifen weg die Liebighöhe. Dicht hinter der Schweidnitzerstr, ein [ Tur ] Bastions- oder Turmbau auf grünem Hügelchen, wohl eine alte Bastion und in den neunziger Jahren ein elegantes Restaurant mit gutem Stadtblick. Wenn wir am 29. Juni wirklich wieder nach B. kommen, wollen wir doch hinauf. Gerade weil wir alte Herrschaften sind. Es ist mir an dieser Geschichte besonders klar geworden, dass meine Jungeneindrücke der heutigen Grossvatergeneration angehören. Mittag in dem gleichen Restaurant wie am Sonntag Abend; ich frischte mich mit einer Citronenlimonade auf. Nach eins ziemlich erschöpft Abfahrt. Wir nahmen zu Zeitersparnis die Reichsautostrasse. Mal nous en prit. 1 1) musste man lange suchen, ehe man sie etliche Km. von der Stadt entfernt fand, 2) war sie grenzenlos öde, sorglich von jedem Ort entfernt, ein kahler Strich durch kahle Gegend (nur in der Ferne bald ein

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