Klemperer, Viktor
mit Ja gestimt worden sei. Das ist doch fraglos entweder Fälschung oder Erpressung. Aber was hilft das rationale fraglos? Wenn ich so etwas überall lesen u. hören muß, drängt es sich mir auf. Und wenn ich mich kaum vor dem Glauben hüten kann – wie sollen sich Millionen naiverer Menschen davor hüten? Und wenn sie glauben, so sind sie eben für * Hitler gewonnen, u. die Macht u. die Herrlichkeit ist wirklich sein.
* Gusti Wieg Wieghardt erzählte neulich, es sei ihr ein Reklameheft für irgendwelche Elektroartikel zugeschickt worden. Zwischen dem Reklametext habe ein kommunistischer Artikel gestanden. Um eines ähnlichen Schmuggels willen – Reklameheft für * Chaplin – ist neulich einen Tag lang das Capitol-Kino polizeilich geschlossen gewesen. – Aber was helfen solche Nadelstiche? Weniger als nichts. Denn ganz Deutschland zieht * Hitler den Communisten vor. Und ich sehe keinen Unterschied zwischen beiden Bewegungen; beide sind sie materialistisch u. führen in Sklaverei.
22 November .
In letzter Zeit viel Geselligkeit in unserm verengten Kreis. Bei * * Blumenfelds (wir allein), bei * Gusti Wiegh., in Heidenau. Dort untersuchte * Dr Dressel mein Herz u. meinen Blutdruck u. fand wiedermal objectiv alles in Ordnung. Wie lange noch? – Überall eine gewisse Bedrücktheit u. Resignation: Die Regierung scheint stabiliert, das Ausland gewöhnt sich, läßt sich imponieren, lenkt ein.
Ein philosophischer Brief vom kleinen * Hirsch. Wie er nutzbringend seine Zeit ausfüllt u. sich vor Verbitterung hütet. Ich will diese Emigranten- u. Ghettobriefe sameln; ich habe schon einen von * Frl Günzburger aus Paris. Eigentümliche Stimmungen des Wartens, Hoffens, Resignierens, Sich in seine Rolle-Findens etc.
Besondere Qual des * Hueberprozesses . Vor einem Jahr sollte er mir mein Recht auf 600 M. verschaffen; jetzt ist er so gedreht, daß ich mit Kosten von etlichen Hundert rechnen muß u. buchstäblich eine Pfändung fürchte. Denn woher das Geld nehmen? Alles fließt in die Hausangelegenheit. Ich habe die Iduna mit weiteren 900 M. beliehen: davon wird oben ein Keller gebaut. * Eva hängt krampfhaft daran. Sie ist jetzt 3 bis 4 mal wöchentlich oben – Auto hin u. zurück – oft Hilfe von Arbeitern, das summiert sich u. doch geht nichts recht vorwärts, d.h., es ist einfach nicht abzusehen, wann wir dort oben einmal werden wohnen können. Vorderhand ist es ein allzuteures Spielzeug. Aber es tut ihr wohl – und teurer als ein Sanatorium ist es auch nicht.
Im Kolleg habe ich nun, wohl endgültig, 8 Hörer, im Seminar 3 u. 5. D. h., ich bin ständig vom Abgebautwerden bedroht.
Immerfort Studien, Ex[c]erpte zum 18 e siècle, ohne daß ich vorwärtskomme. So muß ich wohl noch zwei Jahre lesen, ehe ich zum Schreiben komme. Der Zugriff früherer Zeiten ist ganz fort, ich lese u. lese in mich hinein u. notiere. An ein Fertigstellen des Bandes glaube ich nicht mehr so recht.
Meine Tage sind über u. über ausgefüllt. Morgens die langen Aufenthalte mit der Hauswirtschaft, dann ein paar Stunden Arbeit, dann Abwaschen, Kaffee, Vorlesen, Einkaufen – mein einziger Weg, wenn ich nicht E. von Hohendölzschen abhole, wobei ich aber kaum aus Tram u. Auto herauskomme; das Auto nehme ich am Chemnitzer Platz – Abends wieder Vorlesen. In den letzten Wochen der * Doyen de Killerine. 1
Ich bin schon zufrieden, wenn ein Tag ohne schwere Depression E s vorübergeht u. ohne Prozeß = oder Hochschul ärger ärger. Ich bin allmählich Meister darin geworden, alle Sorgen zu unterdrücken, stur mich stur ( * Hitlers Lieblingswort) in die Arbeit, in irgendwelche, zu stürzen.
12. Dezember, Dienstag
Heute vor einer Woche mußte sich * Eva mit einem neuen Anfall ihres Fußleidens legen, und seitdem geht es uns sehr schlecht. Sie liegt fast den ganzen Tag, im Eßzimmer aufgebettet – Bewegung bringt immer wieder Schmerzen –, und das Unheil wirkt furchtbar auf ihren Gemütszustand. Da wir gleichzeitig harten Frost bekomen haben, durch den die Schäden der Wohnung grausam hervortreten – unheizbare Zimmer, Eis am Boden der Badewanne, häufige Unmöglichkeit für E. die Treppe zum Bad (unterm Dach!) hinaufzusteigen – so ist alles doppelt schlimm. In Momenten tiefster Depression wirft E. mir geradezu vor, an ihrem zertörten Leben u. elendem Sterben schuld zu sein, weil ich gegen ihren dringenden Wunsch, ihr besseres Wissen, ihre Rechnungen u. Baupläne allzulange mit dem Bauen gezögert habe, bis es zu spät war.
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