Klemperer, Viktor
– u. nicht religiös = moralisch formelhaft – die Dinge als Leihgabe betrachtet. Man rechnet auch als junger Mensch mit dem Tode, aber doch nur wie mit einem Unglücksfall und etwas Möglichem (selbst im Felde) u. nicht wie mit einer Unausweichlichkeit. – Altsein ist heute schlimmer als in früheren Zeiten. Der Himmel ist fort – aber der Glaube an den Ruhm auch. Für ihn ist die Welt zu groß geworden. Ruhm gab es, solange man noch von dem bißchen Europa l univers 1 sagte, solange man nicht mit fremden Welten, nicht mit Aberjahrtausenden einer Vergangenheit u. einer Zukunft der Erde rechnete. – Ich ließ im Seminar * Montaigne 2 lesen: Ca trotte , ca dance Ils vont, ils viennent, ils trottent, ils dansent usw., u. das sei sei dann vom Tod überrascht; der Weise hingegen denke immer an das Ende. Aber nur diese Gedankenlosen leben .
Frau Schaps las Briefe aus Haifa vor. Unter tapferem Humor viel Not verborgen. Schwieriges u. sinnloses Hebräischlernen – nur das Kind in der Schule lernt rasch (u. wird in ein Scheinwesen hineingepreßt). Engste Wohnung (3 Zimmer), regen wasserverdorbene Möbel; * Jule gibt für wenige Pfund (das engl. Pfund jetzt 13 M.) Cellounterricht u. wirkt in Conservatoriumsconzerten mit (Programm englisch u. hebräisch), dabei ganz europäisches Program, * Beethoven, 3 * Brahms, 4 * Tschaikowski 5 ); sein ursprünglicher Geschäftsplan scheint gescheitert, ein neuer noch nicht gefunden, u. der Mann ist fast so alt wie ich; man bedankt sich überschwänglich für 200 M., die Frau Sch. geschickt hat. – Dennoch muß mancherlei Geld da sein; manches hat er nach Palaestina hinübergerettet, vieles besitzt seine * Schwiegermutter, sehr vieles sein * Schwager Gerstle. – Frau Sch. wird noch diesen Monat auf ein paar Wochen nach Haifa fahren; kapitalistische Angelegenheit: die englische Regierung läßt keinen Touristen ins Land (weil aus Touristen oft Einwanderer geworden sind), der nicht den Besitz von 15 000 M. nachweist. Ich fragte nun, da sie eben aus Berlin kam u. erzählte, wie dort die ganze junge jüd. Generation außer Landes sei, was man dort in ihrem Kreise über die Lage denke. Prompte Antwort: []man hält den Tiefpunkt für überwunden; wenn Zolleinigungen komen, muß es wieder aufwärts gehen. Das heißt: diese Menschen sind froh, wenn sie Festigung der Regierung * Hitler, Überwindung des Außenboykotts erhoffen können. Mögen sie ins Ghetto zurückgedrückt, ganz u. gar getreten u. geschändet sein, mögen ihre Kinder die Heimat verloren haben – wenn sie nur wieder Geschäfte machen können, ist der Tiefpunkt überwunden. Es ist so unendlich schamlos u. ehrlos gedacht, daß man beinahe mit den NS. sympathisieren möchte. * Eva sagte nachher, manche Leute ließen sich mit Closetbürsten ins Gesicht schlagen ohne es übelzunehmen. Mir komt es wie Atavismus aus der Ghettozeit des Mittelalters vor. * Frau Schaps ahnte gar nicht, welche Ehrlosigkeit sie berichtete. Sie ist eine sehr kühle Natur, daher ihre ungebrochene Vitalität. Die Reise nach Palaestina: eine neue schöne Reise u. Emotion. – Ich fragte, ob ihre Berliner Leute die Besserung der Wirtschaftslage für real u. nicht geheuchelt hielten. Die Kaufleute, ja, sagte sie; ihr Schwiegersohn * Gerstle als Industrieller, nicht. –
Alle werden betrogen, jeder auf andere Weise, u. darin steckt die Genialität der Regierung. So sagte mir neulich * Frl. Papesch , die Regierung sorge für die Privatschulen, weil sie alle Einzel = , Klein = und individuelle Tätigkeit unterstütze. Und dabei ist es doch von Tag zu Tag mehr u. ausgesprochener Nationalbolschewismus, was getrieben wird. Dem widerspricht durchaus nicht das fieberhafte Rüsten, von dem die jungen * * Köhlers berichten.
2 März, Freitag Abend
Das bös böse Semester schloß ich am Mittwoch. Die vorletzte * Corneille = Übung hielt ich mit der jüdischen Quote, der kleinen * Isakowitz allein, die letzte mit ihr u. einem jungen Menschen ab, der nun sein Staatsexamen bei * Wengler macht. In der Montagsübung u. selbst im Montagscolleg sah es nicht viel anders aus, 4–5, 9–10 Leute. Das verleitete immer wieder zu subjectiven Abschweifungen, Intimitäten, Unvorsichtigkeiten, hatte aber auch seinen Reiz. Ich sprach halb u. halb vor Gesinnungsgenossen, ich hatte immer das Gefühl, ein paar Junge sozusagen mit Schutzimpfung zu versehen oder zu Bazillenträgern zu machen. Den Arm habe ich nie gehoben. – Wie lange werde ich dieses Spiel fortsetzen
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