Klemperer, Viktor
mindestens teilweise verurteilt werden u. Hunderte verlieren. Nirgends eine Aussicht auf Änderung der politischen Lage – im Gegenteil: die schweren oesterreichischen Kämpfe 1 umstrahlen das Hitlerreich mit der Glorie des Friedens u. der Ordnung, u. wenn sich * Dollfuß u. die Sozialdemokraten verblutet haben, wird * Hitler der Erbe sein. – Unfähigkeit einen Arbeitsentschluß zu fassen. Nach Wochen habe ich endlich die * D Argens lektüre mit etlichen Notizen beendet – aber nirgends klärt sich mir ein Überblick des Ganzen. Auch läßt mich die endlose Wirtschaftsarbeit höchstens ein, zwei Stunden an den Schreibtisch kommen.
Aber ich klamere mich an alles u. jedes Kleinste, was erfreulich ist. Daß Eva frischer ist, daß sie ein klein wenig aus dem Haus komt, neulich zum Baumverschneiden nach Dölzschen, gestern Abend * Annemarie zum Bahnhof begleitet u. dann ein paar Schaufenster besehen, heute zu großem Wolleinkauf in die Stadt, daß sie an Handarbeiten Freude findet, daß sie sich tapfer darauf versteht, schrittweise unsern unseligen Hausbau weiterzutreiben – alles das ist mir Trost. Und dann: ich lese Stunden u. Stunden vor, oft bis tief in die Nacht. Und dann: man freut sich an seinen zwei Katerchen u. am Aufblühen einer Kamelie u. an der Gelindheit des Wetters u. dem bevorstehenden Ende des Winters. Und dann: die Hoffnung, daß dieser Zustand der maßlosen Tyrannei u. Lüge schließlich doch einmal zusambrechen muß, hört niemals ganz auf. –
Heute war die erste Sitzung der ganzen Fakultät unter dem Führer * Beste. Aufgehobene rechte Hände, ein Studentenvertreter, der a. o. * Prof Scheffler in SA = Uniform, der a. o. Prof. * Fichtner mit dem Parteiabzeichen – u. alles nur Formalität u. Äußerlichkeit. Aber mir wird von diesem Händeaufheben buchstäblich übel, und daß ich mich immer wieder daran vorbeidrücke, wird mir noch einmal den Hals brechen. –
Wahrheit spricht für sich allein – aber Lüge spricht durch Presse und Rundfunk.
Ich las vor * Mirko Jelusich 2 : * Cromwell . Ein Modebuch, das von nationalsozialistischer Seite propagiert wird. Einzelne balladische Skizzen, Schlachtschilderungen, auch Privates, gut. Der Mann ist ein Balladiker. Aber er ist kein Epiker, kein Historiker, kein Geschichtsphilosoph. Immer wieder reißt der Faden, u. man müßte genaueste Ge- schichtskenntnisse haben, um auch nur dem allgemeinen historischen Gang folgen zu können.Und nirgends werden die Kräfte des Gegenspiels deutlich. Nicht der * Stuart, 1 nicht das wechselnde Parlament, nicht die Sekten u. vor allem nicht das Volk. Und nirgends tritt ein Charakter, eine Gestalt ganz klar heraus u. prägt sich ein. Nicht einmal der * Cromwells 2 selber. Wieso schafft er die Nation, wieso bringt er Freiheit? Er vergewaltigt alle, alle sind gegen ihn, man sieht nicht, worin sein Werk besteht, man sieht nicht wie seine Gewaltherrschaft ihn überleben soll. Aber alle Augenblicke werden ihm Gedanken zugeschoben oder Betrachtungen an ihn geknüpft, die ebenso Leitartikel des Völkischen Beobachters über unsern Führer sein könnten. Ganz offenbar schwebt dem Autor eine Parallele * Hitler–Cromwell vor. Aber alles Philosophieren u. geschichtsphilosophische Pathos bleibt wirr, dunkel, widerspruchsvoll, u. immer sind es nur einzelne Bilder oder Balladen, die packen. Einmal geradezu ein Kapitel in Versen. Einmal eine humoristische Skizze: Appell bei den Puritanern. Besonders kitschig Cromwells Liebesaffaire mit der dämonischen Lady Lucy. Das Ganze, je länger man darüber nachdenkt, um so unerfreulicher, weil ungestalteter.
Ich hole jetzt Bücher aus zwei Leihbibliotheken. Leihbibliotheken (ohne Pfand) sind seit etwa ein, zwei Jahren pilzartig aufgegangen. In meiner Jugend gab es einige Leihbibliotheken, dann verschwand die Einrichtung so gut wie gänzlich, lebte nur in Badeorten – und jetzt überall, so häufig wie Chokoladengeschäfte, so häufig wie früher die kleinen Kneipen, selbst in den ärmlichsten Stadtteilen die Leihbibliotheken. Und doch ist der Geist niemals in Deutschland so angefeindet worden wie heute.
Dann las ich ein paar kleine Novellen von * Conan Doyle 3 vor. Immer der selbe hübsche Trick. Conan Doyle findet den Verbrecher, indem er Nebensächliches sieht u. scharfsinniger auslegt als ein anderer. Das ist schon das Schema der orientalischen Geschichten, die * Voltaire verwendet. Und es ist immer wieder spaßhaft. (Z.B. Die Leute haben Rum getrunken, obwohl Whisky da war: also
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