Klemperer, Viktor
die Männer. Noch in der * Bismarckzeit. Ich möchte einmal über die Thränen in der Literatur schreiben. Sind sie heute nur in litteris 8 oder auch in vita unmodern? Und wie ist die Wechselwirkung zwischen Leben u. Literatur hierbei? Seine Raserei über * Tobler, 9 den feinsten Pedanten u. den Philologiebetrieb damals u. sein Fortrennen aus dem Colleg entspricht meinen eigenen 25 Jahre später gemachten Erfahrungen. (Immer noch bei Tobler!)
Zu den eigenen Erinnerungen : Ich sehe mich mit meinem Mitschüler * Grimm als Primaner die Treppe zur Klasse hinaufgehen. Ich will etwas beteuern, ich weiß nicht mehr, was, und indem ich sage, daß es mir wahrhaftig Herzenssache sei, schlage ich mit der Faust gegen die Brust. Dabei habe ich ein so lebhaftes Schamgefühl, [ daß ]diese Bewegung passe nicht zu mir u. sei gemacht, daß ich es heute noch empfinde. Es ist das Schamgefühl das mir jeden pathetischen Ausdruck, jede Geste in eigener Sache verbietet. Das mir auch alles Weinen verunmöglicht. Es ist mir immer im höchsten Grad unmöglich peinlich, wenn ich im Kino oder beim Vorlesen oder bei irgend einem Einfall Thränen aufsteigen fühle. Was neuerdings bei sehr kaputten Nerven allzuoft der Fall ist.
Ich erzählte 1920 dem verstorbenen Redacteur * Kopke in Leipzig voller Stolz, ich hätte zur Berufungsverhandlung in in Dresden Freifahrt zweiter Klasse gehabt. Er lächelt mitleidig gerührt: das sei üblich, und ich schäme mich meiner eingestandenen Armut. – * Mutter erzählte mir einmal ihr Kinderglück, als sie sich im Restaurant ein feines Essen bestellen durfte u. Forellen bestellte. Ich muß damals etwa 16 Jahre alt gewesen [sein] u. empfand Scham für sie, für ihre Armseligkeit, dieselbe Scham, die ich dann in eigener Sache etliche 20 Jahre später für Kopke gegenüber fühlte.
Am 27/4 war ich mit * Eva bei dem Treuhänder * Tanneberger, den der * Commerzienrat Meyerhof mir empfohlen hat. T. hat die Hoffnung, uns Baugeld zu beschaffen, noch nicht aufgegeben. Aber es scheint auch ihm nicht zu gelingen. Der Mann, vertrauenerweckend, sagte uns, er sei Frontoffizier, Stahlhelmer u. vor der Machtübernahme zur NSDAP übergetreten, gehöre auch noch der Partei an. Aber er sehe rings Mißwirtschaft, Mißstimmung, u. es könne nicht mehr weitab sein von der Katastrophe. Er verurteilte die Maßlosigkeit des Antisemitismus, er behauptete nur die Unterführer benutzten ihn noch als Reizmittel, von oben wiegle man schon ab. Und nun die Rede * Goebbels . –
Am Kirschberg unsre jüngsten Errungenschaften: das Setzen der Eibe (7 Ctr!), die ich Eva zu Weihnachten schenkte u. die Anschaffung eines 21 m. langen Gartenschlauches. Er tat schon sehr not bei der ständigen Hitze u. Trockenheit. Neulich schleppte ich einmal über hundert Eimer Wasser.
27. Mai, Sonntag
Am 16. haben wir gemeinsam in unserm Dölzschener Garten gepflanzt u. gearbeitet. Wagemutiges Vergnügen.
Über Pfingsten kamen * * Scherners auf anderthalb Tage.
Mittwoch 13 Juni
Meine ganze ziemlich spärliche Zeit – Wirtschaft! Dölzschen! – floß der * Delillestudie zu. Begonnen Mitte April, immer weiter ausgewachsen, am 10/6 endlich fertig, bis auf das Durchlesen der sehr engen Manuscriptes. Eine ausgezeichnete Arbeit – wann u. wo zu veröffentlichen? Ich bat * Wengler , sich schlimmstenfalls meines literarischen Nachlasses anzunehmen.
Wengler spielt seit ein paar Tagen eine Rolle in unserm Leben. * Seine Mutter war Engländerin, er hat ein Vermögen in England liegen. Nach neuem Gesetz muß er es realisieren u. nach Deutschland schaffen. Er sucht es sicher anzulegen in Furcht vor Inflation. Möglich daß er uns eine Hypothek gibt. Wirkliche Hoffnung habe ich nicht mehr, wir sind zu oft getäuscht worden. Inzwischen gärtnert * E. oben fanatisch weiter, im Durchschnitt alle Übertage. In unser Budget ist jetzt das Autofahren mit rund 110 M im Monat aufgenomen. Meist hole ich E. gegen Abend ab; ich gehe durch den Park hinauf, nachdem ich am Chemnitzer Platz das Auto bestellt habe. Alle Chauffeure kennen uns schon. Mehrfach war ich selber zum Sprengen, Wassertragen etc. mehrere Stunden mit oben. (Seit fast 3 Monaten herrscht jetzt kaum unterbrochene Trockenheit; die Ernte soll schon stark geschädigt sein. – Wir sehen alles unter dem Gesichtspunkt u. Herzenswunsch des Pereat * Hitler. Und so ist uns auch dies nicht unwillkomen, obwohl der Garten verschmachtet. Übrigens darf man in D. noch sprengen, während vielerorts schon
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