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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Bricht der Bulle diesmal zusammen – beim zweiten furchtbaren Schlag vor die Stirn? Er bricht wieder nicht zusammen. Und nun gestern das Bulletin: * Hindenburgs Zustand besorgniserregend. Jetzt muß doch die Entscheidung fallen. Wenn die nächsten Tag[e] nicht den Sturz * H. s bringen, macht er sich zum Praesidenten, d.h. er läßt sich in freier Wahl von der unerschütterlichen Liebe seines Volkes erwählen. Was ich notieren will, ist nur wie[der] der Punkt: Sprache des 3. Reichs . Die gestrigen Zeit[ ig ]ungen erschienen mit dicken Schlagzeilen über die ganze Hauptblattbreite: Hinrichtung der * * * Dollfußmörder. 6 Darunter als Überschriften dies u. das. Aber nirgends in der Breite der ersten Zeilen der Name Hindenburgs.
    Erst später, in den drei u. viergespaltenen Columnen, fettgedruckt wohl, aber nicht fetter als jeder vielerlei anderes – u. Fettdruck ist jetzt so häufig, daß er gar nicht auffällt (cf. celui > celuici, 1 Steigerungen der Reklame): das Bulletin. – Am Abend bei * * Blumenfelds (sie sollten bei uns essen, * Grete liegt mit zerschundenem Knie, wir gingen zum Abendkaffee zu ihnen): da wurde aufs ernsteste über die neue Sachlage gesprochen, von Bl. aus hoffnungslos, während ich erzählte, was mir * Johannes Köhler vor Wochen sagte: Reichswehrdictatur bei Hindenburgs Tod. Und nun heute früh vox populi : ich fragte erst den Milchmann: Neues über Hindenburg? Ganz gleichgültig; er habe nichts gehört, so einem alten Mann aber könne schon mal etwas zustoßen. Danach den intelligenten Bauern aus Tharandt, der uns jeden Mittwoch Butter bringt. Er, ganz ausdrücklich: – Nein, stand was in der Zeitung? Durch das bloße Unauffälligmachen im Druck also ist dem Volk die Sache in ihrer horriblen Wichtigkeit verborgen worden . Sind die Nazis nun Meister im Behandeln der öffentlichen Meinung oder nicht? Dies ist keine rhetorische Frage, sondern eine wirkliche. Ich weiß die Antwort wahrhaftig nicht. Sie spekulieren durchweg auf die Primitivität u. Dummheit der Masse. Spekulieren sie richtig, u. wieviel darf man diesem Pru Faktor zumuten? Das Neue am Vorgehen der N. ist ein doppeltes: a) sie suchen diese Dummheit in der komenden Generation auch der besseren Klassen auszubreiten, indem sie 1) den Intellekt diffamieren 2) jede Schul = u Hochschulbildung abwürgen b) sie mischen unter die Lügen Wahrheiten im Stil des alten Witzes: Jawohl ich habe die Taschen voller Brüsseler Spitzen[], wie der Pfarrer zum Grenzbeamten sagte, als er wirklich Spitzen bei sich trug. So druckten sie neulich unter der Überschrift Niedriger hängen! ab: der Giornale d Italia 2 schreibe: Die Nazis sind nichts als Mörder u. Päderasten. –
    Bei * * Bl.s war ein * Fräulein Ballin aus München zu Besuch. Zu deren * Vater kam 1923 beim NS-Putsch * Goering mit einer Armwunde, bat um Hilfe u. ließ sich verbinden. B. sagte ihm, er sei Jude, wolle aber helfen. Goering besitze noch heute ein Handtuch der Familie. Damals habe er die Zähne gefletscht u. hörbar Luft eingesogen, man wisse nicht, ob als Antwort auf das: Ich bin Jude, oder weil ihn der Arm schmerzte. (Eine ganz ähnliche Scene steht in * Feuchtwangers Erfolg.)
    Viele Monate lang quälte mich die Briefkastenfurcht . Jeden Morgen u. Nachm. beim Heruntergehen erwartete ich eine böse Nachricht vom * Hueberprozeß oder ähnliches. Seit der neulichen Wendung zum Bessern ließ das nach. Vorgestern kam es auf einen Tag wieder. * Bl. hatte mir telephoniert, * Holldack sei abgebaut worden. Dann war ich wohl der nächste – u. wie meinen Verpflichtungen als Pensionierter nachkomen? Tags darauf telephonierte ich mit * Frl. May u. * * Kühns u. erfuhr eine gewisse Beruhigung. Der Fall Holldack sei ein Sonderfall. Er hat die Wegnahme des Prüfungsrechtes nicht so als toter Käfer hingenomen wie ich, hat rebelliert, Zwist gehabt, schließlich seine Pensionierung gefordert u. erhalten. – H., nichtarischer Protestant, ist zum Katholizismus übergetreten. Er will seinen jungen Kindern aus zweiter Ehe eine ruhige Schulbildung geben. Er hat ein Häuschen in Bayern; in der Nähe ist eine Klosterschule, die sollen sie besuchen. (Wie leicht ist es, stolze Unabhängigkeit zu bewahren, wen man Geld hat. Ich muß kleben u. muß aus dieser Not die Tugend verbissenen Ausharrens machen.[)]
    Vor einigen Tagen machte mich * Blumenfeld auf die Schlußseiten in * Heines Zur Geschichte der Philosophie u. Religion in Deutschland 1 aufmerksam, auf die ihn selber ein Bekannter hingewiesen

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