Klemperer, Viktor

(esthnisch = Täubchen.) Ein hübscher Nachmittag u. Abend in allem Wirrwarr. Wir haben inzwischen eine provisorische kleine Kochplatte zu unserm Spirituskocher u. Steckkontakt = Rasierwasserkesselchen hinzu erhalten, etwas mehr Licht u. ein klein wenig, winziges wenig mehr Raum u. viertelwegs aufkeimende Ordnung. Die Damen nachher ins Hôtel, Walter bis heute Vorm. bei uns. – Wir schenkten ihnen ( * Evas Idee; ich war so Ungewöhnlichem gegenüber ängstlich, sie nicht) unsere Trauringe. Sie waren sehr beglückt. Sie wollen das Eva–Victor 29. 6. 04 ruhig stehen lassen u. ihre Daten daneben gravieren lassen. Die Ringe passen ihnen u. sie zogen sie gleich über die Finger. * Anny Klemperer, 2 * Bertholds Witwe hatte an mich einen Verrechnungsscheck geschickt über 100 M., ich solle ihm dafür Ringe besorgen. Ich gab ihnen das Geld so bar zu anderer Verwendung. * W. s Frau u. Schwägerin gefallen mir u. sprechen für ihn. Es spricht weiter für ihn, daß er den nationalzionistischen Tendenzen äußerst feindlich gegenübersteht u. so bald als möglich nach Deutschland zurückmöchte. * Seine Frau bleibt Christin. Manches in diesem Schicksal ist dem unseren verwandt. Unsere vererbten Ringe dienen weiter der notgedrungenen Postlegitimität.
    Es besuchte uns auch in diesen Chaostagen * Lore Isakowitz, die Tochter des * Zahnarztes. –
    An der Hochschule wurden zum 1. Oct. pensioniert * Gehrig u. * Raab, die demokratischen Nationalökonomen, R. mit einer jüdischen Frau bemakelt. * Spamer soll zu Ostern gehen, er ist zum Leiter der Reichsleiter der deutschen Volkskunde ernannt worden. So baut man die Abteil- allmählich, vielmehr: rasch ab. Ich kome mir vor wie Odysseus bei Polyphem 1 : Dich freß ich zuletzt. Hierzu bemerkte * Blumenfeld mit schlagfertigem Trost am Telephon: immerhin sei Odysseus nicht gefressen worden, vielmehr habe es mit Polyphem einen bösen Ausgang genomen. * Eva mit unverwüstlichem Optimismus u. Willen richtet das Haus ein u. arbeitet immerfort an den Plänen des Weiterbaus.
    Sprache des dritten Reichs . * * Jelskis haben als geläufige Abkürzung des öftern gehört u. gelesen: Blubo = Blut u. Boden. In Basel singen die Kinder: Heil, Heil, Heil! – H. hängt am Seil.
     

 
    10 October Mittwoch .
    Ich habe ein paar Schubladen ausgeleert, Zeitschriften in Kisten auf den Boden gestellt, um Raum zu bekomen. Jetzt, da einiges geöffnet umhersteht, ist das Chaos noch unerträglicher als zuvor; aber vielleicht, wenn heute die Regale befestigt werden, kommt in den nächsten Tagen etwas Ordnung zustande. Inzwischen unendlicher Ärger mit dem Elektroinstallateur. Er kommt nicht zu Rande, das Kochgerät fehlt immer noch, und jetzt stellt sich heraus, daß er falsche Angaben über die Tarife gemacht hat. Ich habe gedroht, ihn regreßpflichtig zu machen; er ist mit seinem Stab von Lehrjungen abgerückt, u. wir sitzen nach wie vor im Unfertigen.
    Was steht alles auf an alten Lebensphasen, wenn man so räumt, u. welches Gesicht hat heute alles! Eine metallene Erkennungsmarke, die ich umhängen mußte, als ich von Landsberg a/Lech aus ins Feld geschickt wurde. (Ich kam danach wieder zur Münchener Truppe). Ein Blatt der Voß Ztg: Berühmte Ärzte im Felde. * Felix Bild 2 [.]
    Und sein * Sohn darf nicht Anwalt sein, 1 weil der * Vater ja nicht gefallen ist. Dank der Hinterbliebenen beim Heimgang des Doctor * Wilhelm Klemperer, auf der Rückseite Verse von mir über den fortgelassenen Amtstitel: Wärst Du als Pastor heimgegangen, [/] Es stünde hier in großen Prangen; / Doch starbst du armer Gottesdiener / Nur leider Gottes als Rabbiner. / Die Würde mußte mit Dir sterben; / Sie ist nicht gut für Deine Erben .. .. Was hat das Fortlassen geholfen? Alte Kalenderbätter, mit Moden aus dem Anfang des Jahrhunderts. Usw. usw. – Ich habe mich von nichts trennen können; alles liegt, wohl eingesargt. Wahrscheinlich sehe ich es nie wieder. Und alles predigt mir mein Alter. Und immer gehen mir ein paar Verse von * Fedor Mamroth 2 durch den Kopf: Was bleibt von allem? Asche, Asche, Asche.
    Es wird Zeit, daß ich wieder ins Arbeiten komme. Nur keine Erinnerungen, kein Nachdenken. Weiterbasteln am * Voltaire, dann am 18 Jh. tant bien que mal. 3
    Ich las endlich Ostwind – Westwind von der * Buck aus. Sehr bedrücklich. Die Unmöglichkeit der älteren Chinageneration, das Neue, Westliche anzuerkennen. Ungeheuer interessant. Bisweilen * Lettres Persanes ohne Satire , ohne Stellungnahme: die einen haben diese Kultur,