Klemperer, Viktor
Potenz; man nennt ihn oft den Kopf der Regierung. Welche Bescheidenheit der Ansprüche. Ein besonders guter neuer Witz: * H., der Katholik, habe zwei neue Feiertage creiert: Maria Denunziata, 1 u. Mariae Haussuchung. 2 –
Mittwoch 17. X
Seit gestern habe ich meine Bibliothek in leidlicher Ordnung. Einige Kisten Zeitschriften (Illustrierte, 3 Woche 4 ), Mistbeet, Oesterreicher ( * M. Brod, 5 alles Nicht = Essaiistische u. = Dramaturgische von * Bahr 6 ) auf dem Boden. Im Übrigen das alte Oesterreich seinem politischen Schicksal angeglichen: auseinandergerissen. – Aber von der Bibliothek abgesehen; immer noch Chaos. Das Problem, 7 Zimer in drei zu quetschen. Der nasse Kellerraum als Küche – Zucker etc. immer verklebt, triefend. Das Eßzimmer daneben, der früher fertiggestellte Keller, noch uneingerichtet. So immerfort die 13 Stufen hinauf und hinunter. Macht 6–800 Stufen am Tage. Das soll anders werden. Handwerkerei noch immer nicht fertig – Maler, Klempner, Elektriker. Die Veranda für die Katzen noch unvergittert. Ihre Kästchen stehen im Musik = u. Eßzimmer. Wo sie in all dieser Zeit ihre compakteren Bedürfnisse erledigt haben, ist uns ein Rätsel. Wenn einmal der Boden gründlich gelichtet wird, dürfte es sich lösen. – Zu all der Enge u. Wirrnis tritt die ewige Verzweiflung der Geldnot. Der Maler besonders frißt mich derart auf, daß ich keine Möglichkeit sehe, die ganzen Geldverpflichtungen der nächsten Monate zu erfüllen. Furchtbar ist diese ewige Sorge. Dazu ständige Herzbeschwerden. – Aber das Häuschen ist hübsch, u der Fernblick in der wechselnden Beleuchtung der Herbststürme, = güsse, = sonnenspiele prachtvoll. – An Arbeit ist immer noch nicht zu denken. Vielleicht morgen, oder übermorgen – mañana. 7 Eigentlich habe ich wenig Lust zum 18. Jh. Was mich wirklich lockt, ist die Sprache der drei Revolutionen u. meine Vita. Beides werde ich wohl nie mehr schreiben. –
Zum Vorlesen kome ich kaum: wir sind Abends zu müde, u. das Licht ist zu schlecht – * Trojahn ist noch immer nicht fertig, der Mann bringt uns zur Verzweiflung. Ich lese vor Amerikanische Schönheit von * Edna Ferber; 1 offenbar in Abhängigkeit von * Hergesheimers historisch-biologischer Art u. nicht so frisch wie ihre andern Sachen.
Heute sollen zu Kaffee u Abendessen * Annemarie u. * Dressel, die unanständigen Köhlers bei uns sein. Es besteht die Absicht, eines der beiden sind mir Wohnzimmer wenigstens einigermaßen u. provisorisch in Stand zu setzen. Während ich schreibe, pinselt * Lehmann, der Vater, die Thüren, auf dem Boden liegt unendlicher Dreck u zerrissene Makulatur, Möbelstücke stehen irrsinnig umher, das Sopha hochgekantet. – Das Geheimnis der Centralheizung ist noch ungelöst; bald Frost, bald Hitze.
Ich nehme mir fest vor, morgen am * Voltaire weiter zu schreiben, u. wenn es auch nur ein paar Zeilen sind.
21. X Sonntag
Sprache des 3. Reichs: Saarbrücken 20. X: [] .. auch in diesem Winter sollte ein großzügiges Winterhilfswerk xxxxx aufgezogen werden. (Verboten von der Comission 2 ). Hier ist aufgezogen also gar nicht mehr pejorativ – anzi! Man zieht eine Uhr auf ... man Eine Weckeruhr .. eine Reklame. Anfangs hatte wohl auch bei den NS das Wort pejorativen Sinn: Der Jude * Magnus Hirschfeld hatte seine Sexualwissenschaft groß aufgezogen. Nun ist es in ihrem Fleisch u. Blut. Ein Wort wird ehrlich! * Eva leitet aufziehen von der Weberei her. Begründung: groß aufziehen, was auf keine andere Herleitung passt.
Nach wie vor Enge, Chaos, kaum gelichtet, Handwerkerei, übermäßige Ausgaben, ständige Herzbeschwerden.
Besuche komen. Wir hatten * Dressel u. * Annemarie als Abendgäste, * * Blumenfelds u. * Frau Schaps gestern zum Kaffee; heute erwarten wir Nachm. * * Wieghardts, u. für jetzt (Mittag) haben sich – rührend u. fürchterlich * * Kaufmanns angesagt, über deren Geiz gestern noch arg geklatscht wurde. – All das hält auf u. ist anstrengend. Wiederum hebt es meinen Mut, wenn den Leuten das Haus gefällt – aber gleich danach ist die Depression wieder da.
Am * Voltaire schrieb ich den Absatz Epik fertig u. stocke nun vor dem Drama. Mich lähmt die Gewißheit, daß ich dieses ganze Capitel, an dem ich seit dem 11. August arbeite, fraglos nach Fertigstellen noch einmal schreiben, nämlich auf die Hälfte reduzieren muß. Aber ich muß es erst ganz fertig haben, ehe ich diese Reduction vornehmen kann. Ich weiß zu viel von Voltaire, zu wenig von den
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