Klemperer, Viktor
andern – die freche Sicherheit, das Durchgreifen meiner früheren Jahre fehlt.
Zum Vorlesen sind wir beide Abends meist zu müde. Mir verschleiern sich auf böse Weise die Augen. (Alles mahnt mich an Alter u. Ende) Die amerikanische Schönheit der * Ferber, von sich aus schon ein schwächeres Werk, leidet unter dieser Zerstückelung.
24./X Mittwoch .
Sprache d. 3. Reichs . Gebärdensprache: Rote Briefkästen, rote Post wagen autos. Propaganda: Umnenung der Straßennamen. * Anna Lehmann Pietrkowski, 1 der Nebbich – ich fand ihren Artikel Gruppensprache, kam darüber mit * Lerch u. ihr in neue Verbindung, verheimlichte aber meinen Plan des 3. Reichs, denn Lerch würde ihn skrupellos als Eigentum aufnehmen – die * P. also, jetzt wirklich im Elend, Tod der einzigen * Schwester, bei der sie in Chemnitz lebte, die P. schrieb: Am Kirschberg' ist ein Gedicht. Wie sehr Gedicht geht daraus hervor, daß der hübsche Name eng umgeben ist von der Adolf Hitler = , der Hermann Göring = , der Horst Wesselstr.
Endlich die * Ferber zu Ende gelesen. Sehr schlecht componiert, bisweilen kitschig, aber mit guten Einzelheiten. Und welche Ausbeute für mein Kulturkundethema. Man macht jetzt offenbar in USA in Traditionalismus, Geschichte u. Blubo . Amerikanische Schönheit ist die Geschichte der Oakesfarm in Connecticut. Neuenglisches Herrengeschlecht[] seit 1701, nun degeneriert. Überschwemung des Landes durch Polen. Die Heldin, ganz durchtränkt von Erinnerungen an die englischen Oakes heiratet einen polnischen Knecht. Ihr Sohn schlägt nach ihr, sieht dem Ahnen ähnlich. Er kann die Farm nicht halten. Aber die Tochter des reichen Mannes, der die Farm kauft, weil er als armer Junge vor 50 Jahren eine Oakes angeschwärmt hat, die Tochter ist so captiviert von dem jungen Oakes-Olyzak, daß sie ihn gewiß heiraten wird. Beim Schluß Happy end in nächster Nähe.
be i – Mein * Voltaire macht immer wieder die gleiche Schwierigkeit. So sehr ich ihn deprimi comprimiere: er wird ein kleines Buch statt eines Capitels. Ich muß das auswachsen lassen u. dann – Gott weiß wie – ein Excerpt daraus herstellen.
30. 10. Dienstag .
Sprache d. 3. Reichs . Zeitungsüberschrift (vorgestern Dr. N. N.): Jugend erlebt * Wilhelm Tell. Erlebnis, das Deutschbeseelte + amerikanisch fehlendem Artikel, Telegramseele. – Ich erhielt eine Zeitschrift mit Hakenkreuz: Das deutsche Katzenwesen. Über seine Nützlichkeit ein Aufsatz des Reichsleiters im großen polit. Stil. Die Katzenvereine sind jetzt Reichsverband; Mitglied darf man als Arier sein. Ich zahle also nicht mehr meine monatliche Mark für den Pflegeverein hier. –
* Voltaire bis zum Schluß des Dramas gediehen.
Vorlesen: * Madelon Lulofs, Gummi. 2
Sonntag Abend 4 November 34 .
Heute morgen der erste starke Reif, tagüber starker Herbststurm, einzelne Güsse, schwere Wolken, gelegentlich grelle Sonne, nahe Ferne. Ich machte einen einsamen Abendweg über Feld auf gesperrter in Bau befindlicher Straße zum Dorf herauf. Gewaltig der Kreisblick oben auf die erleuchtete Großstadt u. ihre Umgebung. Schön genug ist schon unser Blick hier – aber nur Segment, während oben das ganze Rund funkelt. Dazu heulte der Sturm. Im Hinaufgehen wieder die üblichen täglichen Herzbeschwerden, das ständige Memento.
– Seit gestern die * Voltairearbeit beiseite gelegt, das Colleg vorbereitet. Die historische Einleitung zum * Dante 2 machte Schwierigkeiten, u. es freut mich nicht mehr, Dinge zusamenzustellen, die andere gearbeitet haben, u. die ich selber nur oberflächlich oder gar nicht kenne. Auch in das franz. Colleg muß ich mich erst wieder hineinfinden. Ich beginne bei * Pascal, 1 will rasch ins 18. Jh. Für das Seminar habe ich eine dürftigste Schulausgabe der kleinen Romane Voltaires (Westermann) zugrunde gelegt. Die großen Texte fehlen, die kleinen sind castriert. – Wieviele Hörer? Ich habe angezeigt: Im Directorzimmer des roman. Seminars. Da sitzen wir zudritt, mich eingerechnet.
Am Mittwoch – ich stand unrasiert im Garten – grüßte von draußen der alte Augenarzt u. Brillenforscher * Prof v. Pflugk . 3 Er kam mit seiner * Frau zufällig vorüber. Wir nahmen sie herein, zeigten das Häusel. Er schimpfte erquicklich auf die N.S. Noch erquicklicher war seine Erklärung: alle seine Patienten, den verschiedensten Kreisen angehörig, seien erbittert wie er. Er glaube nicht mehr an lange Dauer. Das richtete für einen Augenblick auf, aber nur für einen
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