Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition)
grundlegend zu ändern. Die starre Struktur zwischen Sender und Empfänger wird aufgehoben, was konkret bedeutet, dass das Ich eines jeden grundsätzlich gestärkt wird. Denn jede geäußerte Meinung hat nun eine Plattform zur Verfügung mit unterschiedlichen Öffentlichkeitsgraden. Jeder kann Sender werden und jeder ist Empfänger. Darüber hinaus wird das Gesendete dokumentiert. Alles, was ein Ich sagt, ist potenziell verfügbar. Und so kann das Ich sich selbst nachvollziehen, sich selbst beobachten. Ein sich selbst beobachtender Geist ist, so sagt es Camus, das Wesen des Intellektuellen. Die Vernetzung der Men schen bedeutet also eine Intellektualisierung, eine Vergeistigung der Menschen. Der Körper wird zusehends weniger wichtig. Auch bedeutet das ein verändertes Verständnis des Intellektuellen. Intellektuelle sind quasi Data- Miner . Sie suchen nach Regelmäßigkeiten in gro ßen Datenmengen. Wie auch das Gehirn selbst. Oder Google . Gleichzeitig bedarf die Fragmentierung der derzeitigen Welt einer Flucht in die Tätigkeit der vernetzten Ichs. Es gibt keine natürlichen Gemeinschaften, sie werden von Menschen geschaffen. Die Gemeinschaft im Netz ist nicht homogen und hat auch keine gemeinsame Identität. Stattdessen werden die vielen Ichs vernetzt, wie sie sind, bilden Gemeinschaften aus Ichs, die zueinanderfinden und sich dokumentieren. Das ist die Essenz der Informationsgesellschaft.«
Es schaudert mich. Mein Ich kann ich gestalten, auf es einwirken. Und gleichzeitig können das andere auch. Dabei ist der Gedanke über die Kontrolle meines Ichs wohl auch eine Illusion meines Gehirns.
Digitale Freunde sind pflegeleicht
tl;dr: Nicht das Internet macht einsam, sondern ich bin im Internet, weil ich einsam bin. Und nicht das Internet pflegt oder beendet eine Freundschaft, Freunde tun das, denn Freundschaft ist unabhängig vom Medium. Übrigens: Daten-Exhibitionisten können auch ohne Facebook glücklich werden.
Ja, ich habe mich bei Facebook gelöscht. Ja, ich habe mich mit meinem ganzen Leben, den Freunden, die eigentlich nie welche waren, und allem Angenehmen gelöscht. Meine Facebook-Identität vernichtet. Mich vom sozialen Druck der Bildmarkierung und Beziehungsstatusangabe gelöst. Emanzipiert. Ich biete dem Mainstream die Stirn. Versage mich der bunten Timeline und dem Zwang zu Netzwerken. Ein paar Mal noch öffne ich aus reiner Gewohnheit ein Tab im Browser und tippe fac ein, bevor ich realisiere, dass meine Zeit auf dieser Plattform beendet ist.
Mein Abschied von Facebook hat verschiedene Gründe. Neben der Tatsache, dass mir das Unternehmen Facebook zunehmend Angst macht, weil es alles über mich sammelt (und zwar so, dass ich nicht nachvollziehen kann, was sie wie haben und an wen sie es weitergeben), habe ich mich geirrt in seiner Bedeutung für mein Leben. Ja, ich liebe es, mich im Internet zu präsentieren und meine kleinen neurotischen Anfälle akribisch zu dokumentieren. Ich trete gerne in Kontakt mit Fremden und offenbare mich. Das geht aber nur, weil mich diese Menschen nicht persönlich kennen, weil ich mit einer anonymen Masse spreche. In der anonymen Masse gebe ich mir mit der Selbstoffenbarung die Bestätigung, lebendig zu sein, doch bei Facebook spiegele ich mich in erster Linie in den Menschen, die ich kenne, mit denen ich verschiedene Episoden in meinem Leben verbinde. Abgeschlossene Episoden. Im ersten Moment freue ich mich, die Gesichter alter Freunde auf Facebook wiederzuerkennen, frage mich, wo sie leben, was sie tun. Wir baden dann in Sentimentalitäten, die der Realität nicht entsprechen, so wie romantische Bilder in Magazinen Gefühle über Gefühle auslösen, die niemals gefühlt werden. Ich übertrage meine Gegenwart in meine Vergangenheit, die sich geschlossen in einem Raum befindet wie eine große Clique, die ich eigentlich nie hatte. Meine Freunde kennen sich ja kaum untereinander! Facebook jedoch ist wie ein Geisterschulhof, der dir im Traum begegnet. Bei Facebook sind immer alle da. Das ist anstrengend. Genauso wie der Versuch, die Gewissheit zu verschleiern, nur sich selbst zu haben. Denn Freundschaft ist eine Gemeinschaft der einsamen Geister, sie findet statt in dem Glauben an die Großartigkeit des Gegenübers. Jedes Medium ist grundsätzlich in der Lage, Freundschaft zu transportieren, die Sprache zu übermitteln.
Eine Zeit lang dachte ich, dass Facebook mir helfen würde, meine Vergangenheit und die Menschen darin zu erleben, besser mit ihnen verbunden zu sein.
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