Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition)
Tod des verfeindeten Mafiabosses und plante Terror- und Mordanschläge. Oft waren ihre Phantasien sogar phantasievoller und aggressiver, als die Spiele es ihr erlaubten. Ihre Feinde gingen in Atompilzen unter, inklusive der kompletten Umgebung. Sie genoss die Macht, erbaute sich am Beherrschen eines realistischen Szenarios mit Strafen und Flucht vor der Polizei, mit Flammenwerfern und Bomben, inklusive Adrenalinauschüttung. Und bei alldem fühlte sie sich großartig – großartig böse, kalt und berechnend.
So, wie ich mich im echten Leben niemals getraut hätte, aufzutreten.
»Die entscheidende Frage ist, ob der menschliche Geist sich selbst erkennen kann.«
Leonard und ich sitzen in seinem Zimmer auf der Couch. Wir treffen uns regelmäßig. Er hofft, dass ich mich auf seinem Sofa irgendwann entkleide, ich dagegen möchte mit ihm philosophieren.
»Die Theorie, dass unser Gehirn Symbolik und Metaphern für die Welt erschafft und letztlich auch eine für den Menschen, finde ich überzeugend. Das ist dann das Ich. Quasi ein Bild, das sich selbst zum Gegenstand hat. So was wie eine Schleife. Eine konstruierte Entität zur Komplexitätsreduktion, eine Abkürzung für n-viele chemisch-physikalische Prozesse im Gehirn. Wir nehmen nicht nur uns selbst wahr, wir kodieren das Wahrgenommene zusätzlich und nehmen das wiederum als Wahrnehmung wahr. Auf einer Metaebene.«
»Die Betrachtung der Betrachtung. Das moderne Ich ist so überbordend, dass kompromisslose Selbstverwirklichung zum Selbstzweck geworden ist. Man könnte auch von einem FDP -Ich reden!«
Wir lachen, denn wenn wir uns bei einer Sache einig sind, dann in der Ablehnung der aktuellen FDP .
»Trotzdem braucht dieses Ich Grenzen, sonst ist es als Metapher wertlos.«
»Die Grenzen muss man sich vor allem selbst setzen.«
»Stimmt. Aber dazu muss man so viel wie möglich ausprobieren, viele Ichs kennenlernen. Dafür ist das Netz natürlich ideal. Da kann man alle Formen des Ichs austesten und Möglichkeiten erschließen, die es sonst niemals gäbe.«
Ich denke an die zahlreichen E-Mail-Adressen, zu denen ich längst den Zugang vergessen habe, die mich zu Horst Siechtum werden ließen oder Alidala King. All die Freemailanbieter , die glauben, ich sei Krebs oder Steinbock, Hund oder Büffel, die mir im Sommer Geburtstagsangebote senden und mich mit »Herr« ansprechen. Ich denke an die kläglichen Ver suche, mittels meiner Adressangabe passende Werbe angebote zu visualisieren, an die Datingportale , die glaubten, ich sei auf der Suche nach einem pinkfarbenen Hund. All diese Lügen, die ich dem Internet schon erzählt habe, all die Geschichten, die ich nicht erlebt habe, aber Teil meines Ichs werden ließ. Nie habe ich auch nur eine Sekunde daran geglaubt, dass die auszufüllenden Felder überprüft werden. Ich habe es einfach ausprobiert, in kindlicher Naivität. Immer in dem Wissen, dass die Verbindung weg ist, wenn der Computer aus ist. Einfach gemacht. Angst vorm Erfassen der IP? Ach, was soll schon passieren?
Aus dem Gedankenstrom gerissen, sage ich nun: »Das Ich zu erkunden ist eine wirklich spannende Tätigkeit. Es ist wichtig, so viel wie möglich auszuprobieren, viele Ichs kennenzulernen. Dafür ist das Netz natürlich ideal. Ändert aber nichts daran, dass es Merkmale gibt, die einen prägen, ob man es will oder nicht. Hautfarbe zum Beispiel oder Geschlecht.«
Leonard macht einen sexistischen Witz, an den ich mich nicht erinnern will. Stattdessen stehe ich wortlos auf und gehe. Er wird sich sowieso melden.
Es dauert keine drei Stunden: Hallo prettyface, das Gespräch mit dir war gut und ich habe dazu etwas Kleines geschrieben. Enjoy .
Etwas Kleines. Mir ist nach Kotzen zumute. Im Strahl. Wenn er doch bloß nicht so klug wäre …
Zunächst müssen wir uns fragen: Was ist das Ich? Das Ich ist im Prinzip eine seltsame Schleife, die sich selbst beobachtet. Konkreter: Mein Gehirn konstruiert ein Ich. Dieses Ich besteht aus Einzelteilen, die man Identitäten nennen kann. Identitäten sind beispielsweise männlich oder deutsch, alt, Akademiker und so weiter. Die Menschen, also andere Ichs, verbinden Eigenschaften mit mir, weil ich ein Akademiker bin. Diese anderen Ichs denken, dass ich mich in einer gewissen Art zu verhalten habe. Mein Ich tut das auch. Es geht davon aus, dass Männer Fußball mögen. Und so weiter und so fort. Jedes Ich hat also Eigenschaften und Erwartungen.
Mit dem Aufstieg der sozialen Medien ist nun einiges im Begriff, sich
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