Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition)
riskieren die Menschen für die Demokratie gerade ihr Leben. Ich habe Angst, Junto zurückzufragen. Irgendwie möchte ich die Antwort gerade nicht lesen und tippe:
– Nationen sind Erfindungen der Menschen. Ich wurde in eine Gesellschaft geboren, die sich als deutsche Nation versteht. Dadurch bin ich gebunden und gezeichnet. Ebenso wie von der sozialen Situation: Sind meine Eltern reich und gebildet? Bin ich Waise? Oder wachse ich während eines Krieges auf? Das sind Bedingungen, die ich nicht ändern kann.
– Glaubst du an Zufälle?
– Eher an Wechselwirkungen, die stattfinden, ohne jedoch zielgerichtet zu sein. Trotzdem ist es leichter, wenn man sein Leben so führt, als mache alles irgendwie Sinn. Karma oder so.
– Aber verbindet dich nichts mit deinem Land?
– Mein Land? Ich verstehe nicht, was mein Land sein soll. Deutschland im Jahr 2012? Zu Recht ist Nationalismus in Deutschland verpönt. Nationalismus ist die komische Vorstellung, dass die Gesellschaft, in der ich lebe, irgendeinen übergeordneten Sinn hat. Die zufällige Verbindung wird heiliggesprochen. Aber klar, ich fühle mich auch mit Deutschland verbunden, vor allem mit seiner Kultur. Ich kenne das Land, die Geschichte, die Mentalität. Ich weiß, wie Deutschland riecht, auch wenn es manchmal furchtbar stinkt. Es ist mir vertraut. Vertrautes ist bequem. Es lässt mich sein, ohne mich zu sehr zu beschäftigen.
Ob ich das Gespräch weiterführen will, weiß ich nicht. Für Junto klinge ich ja doch nur wie ein verwöhntes Kind. Doch gerade angesichts seiner Situation packt mich wieder einmal die Verzweiflung über die Unabänderlichkeit der Welt. Und dieses Gefühl kenne ich nur zu gut. Diese existenzielle Verzweiflung hat mich Politik studieren lassen, sie hat mich aber vor allem jahrelang gelähmt.
Am 11. September 2001 drang die Weltpolitik radi kal ins Leben der damals fünfzehnjährigen chloe.f.f.w ein. Was war da in New York passiert und wieso? Wer hatte was getan? Der Schock über die Bilder und vor allem über die Reaktionen darauf grub sich tief in ihr gerade entstehendes Weltbild ein. Brennende Flaggen, auffahrende Panzer, Trauer und Panik prasselten auf sie ein. Überfordert von der Welt, fraß sie sich bald durch Wikipedia und diverse Nachrichtenportale. Sie stieß auf Verschwörungstheorien, auf wahnsinnige Ideen und eine Welt, deren Abgründe sie nicht wahrhaben wollte. Sie beschäftigte sich mit Vietnam, dem Iran und Afghanistan. Schließlich las ihr Oberstufenkurs ein Buch, das keine schlimmere Wirkung hätte haben können. Kants »Zum ewigen Frieden« desillusio nierte sie vollkommen und anhaltend. Gleich die ersten Zeilen fuhren ihr ins Mark.
»Zum ewigen Frieden. Ob diese satyrische Überschrift auf dem Schilde jenes holländischen Gastwirtes, worauf ein Kirchhof gemalt war, die Menschen überhaupt, oder besonders die Staatsoberhäupter, die des Krieges nie satt werden können, oder wohl gar nur die Philosophen gelte, die jenen süßen Traum träumen, mag dahin gestellt seyn.«
Sie realisierte, dass wir uns seit dieser Schrift im Prinzip nicht weiterentwickelt haben. Schlimmer noch: Die Lösungen waren alle bereits gedacht worden. Nur hielten sich die Menschen nicht dran. ALLES SCHON DA GEWESEN ! Kaum eine Parole reflektierte ihre Haltung so sehr wie Francis Fukuyamas »Ende der Geschichte« – tja, und jetzt?
Es war anx, der alles änderte. Ob chloe.f.f.w sich in ihn verliebte und jade wurde, weil er ihr einen neuen Anfang der Geschichte zeigte, oder ob jade den neuen Anfang sah, weil sie sich verliebte, ist unbedeutend. Nach all den Jahren auf der gemeinsamen Schulbank hatten sich Christian und chloe.f.f.w zunächst aus den Augen verloren. Dann tauchte Christian plötzlich wieder auf – als ein anderer. Er nannte sich anx. Seine Aura war plötzlich eine Mischung aus Che Guevara, Jesus und einem Cyborg. Die Haare lang, die Kleidung militärisch, die Haltung zur Welt gefunden. anx und jade saßen die meiste Zeit gemeinsam vor ihren Rechnern und ließen sich von der politischen Aufbruchstimmung im Netz mitreißen. Sie machten Politik aus Notwehr. Einflussreiche Gruppierungen hatten nach Jahren der Ignoranz plötzlich das Netz als Feind entdeckt. Von Netzsperren war die Rede. Auch davon, dass Urheberrechtsverstöße streng geahndet, das Netz kommerzialisiert und reguliert werden sollte. Bisher hatte man die Netzgemeinde frei sein lassen in den unbestimmten Sphären. Doch die Mittel wurden erbarmungsloser. Der Ton rauer.
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