Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition)
lernte den Internet-Aktivisten aus dem Nahen Osten bei einem von Mortensens IRC-Chats kennen. Mortensen, der Junto auch nur über das Netz kannte, hatte schon viel von ihm berichtet, und so fiel mir der Name in der Liste der Chatteilnehmer sofort auf. Wir merkten schnell, dass wir uns viel zu sagen hatten. Wir diskutieren vor allem über Politik. Mit jedem Gespräch wächst unsere Vertrautheit. Wenn wir chatten, ist es, als sähen wir uns in die Augen. Und obwohl ich Junto noch nie in die Augen geguckt habe, vertraue ich ihm, mag ihn und, ja, wertschätze ihn als den Menschen, der er ist. Ich habe gar nicht das Bedürfnis, ihn persönlich zu treffen, so gut kenne ich ihn. Ich fühle mich eher wie ein Romantiker, der in der Ferne die Intensität verspürt. Wir haben eine Geschichte zusammen, wir haben Geheimnisse und ein ganzes Set an Humor und Themen. Das verbindet uns, auch wenn wir uns noch nie getroffen haben. Einmal war Junto in Deutschland. Aber ich habe ihn verpasst. Zum Glück.
Funktionierende digitale Freundschaften können miserabel werden, wenn die Körper zur gleichen Zeit am gleichen Ort sind. Viel zu oft ist es mir schon passiert, dass ich darauf gepocht hatte, Menschen zu treffen, deren Internetart ich liebte, nur um anschließend zu merken, dass wir uns im echten Leben nichts zu sagen haben. Wo war der Charme, der Esprit, der Witz von @ Mlle_Amalthea? Stattdessen große, leere Augen, versiegelte Lippen und die Frage: Wie kannst du in 140 Zeichen so sprühend sein, wie du bist, wenn du doch so scheu bist, wie du bist?!
Einvernehmlichkeit im Geiste kann leicht an den Körpern scheitern. Oder umgekehrt an der bloßen Reduktion auf den Geist. Junto und ich kommunizieren vor allem über das geschriebene Wort, das mittlerweile die gleiche Geschwindigkeit erreicht hat wie das gesprochene. Und so lerne ich auf eine neue Art Menschen kennen und lieben.
Digitale Freundschaft tippe ich in die Suchmaschine und hoffe auf clevere Artikel, die das Phänomen erläutern und Licht ins Dunkel der metamodernen Freundschaft bringen. Hilfreich erscheint mir das alles nicht. Freundschaft ist ein Konzept der Moderne, gebunden an alles, woran wir glauben: Gleichheit, Wahlfreiheit und Individualismus. Wir begegnen unseren Freunden auf Augenhöhe, dass sie einem Zweck dienen, ist verpönt. Unsere Freundschaften bestehen außerhalb unseres täglichen Tuns, wir sind nicht abhängig von unseren Freunden, die wir selbst wählen. Freunde sind die Familie, die wir uns selbst aussuchen; das Versprechen der Aufklärung ist die Freiheit, über unser Umfeld zu bestimmen. Freundschaft wird so zu dem Ort, der vor der bösen Welt beschützt. Digitale Freundschaften sind anders und doch irgendwie gleichwertig. Jede Freundschaft hat ihre Sprache, ihre Form der Kommunikation. Chatten zerstört keine Freundschaft – Freunde tun das. Und Facebook erhält keine Freundschaft, Facebook stellt sie nur ins Schaufenster.
Ich liebe nicht mein Land, ich liebe das Internet
tl;dr: Im Laufe des Studiums wurde mir klar, dass das Internet die Chance sein könnte, Demokratie und Meinungsfreiheit weltweit auf eine neue Stufe zu heben. Wir gründeten damals sogar einen virtuellen Staat. Die Rechnerwolke hat ihn sich längst einverleibt. Dafür gibt’s jetzt die Piraten …
Am unteren Bildschirmrand leuchtet Juntos Name. Eine seiner üblichen Fragestunden:
– Was fühlst du für Deutschland?
Ja, was verbindet mich mit Deutschland? Mit der deutschen Nation? Eine Nation ist eine ideelle Gemeinschaft, die entsteht, weil die Menschen es wol len. Aber wollte ich die deutsche Nation jemals? Und diese Vorstellung von Volk, was soll das sein? Alle, die Deutsch sprechen, sind deutsch und vereint? Ich fühle mich Junto viel näher als den meisten meiner Nachbarn.
– Gute Frage. Natürlich spreche ich Deutsch, ich mag die deutsche Sprache. Ich liebe die deutsche Literatur.
– Steppenwolf, das weiß ich!
– :) Ja, Steppenwolf! Aber auch vieles andere. Ich mag das deutsche Klima und die Natur. Das Es sen. Na ja, was heißt das schon? Ich bin aus Zufall in Deutschland als Kind von Menschen geboren, die in Deutschland geboren sind. Ich glaube nicht an Nationen.
– Warum nicht?
Junto quetscht mich heute aus, ohne etwas über sich zu erzählen. Manchmal ist es leichter, Fragen zu stellen, als welche zu beantworten. Ob er sich sehr mit seinem Land identifiziert? Wir finden die Demokratie selbstverständlich, kritisieren unsere Politiker. Da, wo Junto herkommt,
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